Volume 5, No. 2, Art. 25 – Mai 2004

Fokusgruppen im politischen Forschungs- und Beratungsprozess

Ursula Breitenfelder, Christoph Hofinger, Isabella Kaupa & Ruth Picker

Zusammenfassung: Das Institute for Social Research and Analysis (SORA) führt Projekte im Bereich der strategischen Beratung für Parteien und Interessenvertretungen durch. Diesen Beratungsprozessen geht immer ein Forschungsprozess voraus, der die empirischen Grundlagen für die Erarbeitung von Empfehlungen liefert. Dabei werden qualitative Verfahren – und insbesondere Fokusgruppen – immer wichtiger. Im vorliegenden Artikel werden anhand von Fallbeispielen fünf verschiedene Einsatzmöglichkeiten von Fokusgruppen im Rahmen eines solchen politischen Forschungs- und Beratungsprozesses dargestellt. Jedes der Fallbeispiele stammt aus der Beratungspraxis und wird dazu genutzt, ein oder zwei spezielle Themen oder Fragestellungen, die sich bei dem jeweiligen Forschungsprojekt gestellt haben, aufzugreifen.

Darüber hinaus werden die Feedback- und Kommunikationsfunktionen, die Fokusgruppen in der Praxis sowohl für die AuftraggeberInnen als auch für die ForscherInnen und BeraterInnen haben, reflektiert.

Keywords: Fokusgruppen, Politik, Politikberatung, Politikforschung, Wahlkampf, Wahlkampagne

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Funktionen von Fokusgruppen in der Politikforschung

2.1 Die "Rückhol"-Funktion

2.2 Die Aufweck-Funktion

2.3 Die Ausgrabungs-Funktion

2.4 Die Argumentationslinien-Funktion

2.5 Die "Sager"-Funktion

2.6 Die Test-Funktion

2.7 Wechselspiel mit quantitativen Erhebungen: Vorbereitungs- und Interpretations-Funktion

3. Einsatzmöglichkeiten von Fokusgruppen in der Politikforschung

3.1 Ideengewinnung und exploratives Sondieren

3.2 Imageanalyse von KandidatInnen und Parteien

3.3 Werbemitteltest

3.4 Wahlkampf-Monitoring

3.5 Nachwahlanalyse

4. Schlusswort

Anmerkungen

Literatur

Zu den Autorinnen und zum Autor

Zitation

 

1. Einleitung

Das Institute for Social Research and Analysis (SORA) führt viele Projekte im Bereich der strategischen Beratung für Parteien und Interessenvertretungen durch. Diesen Beratungsprozessen geht immer ein Forschungsprozess voraus, der die empirischen Grundlagen für die Erarbeitung von Empfehlungen liefert. Obwohl nach wie vor ein Großteil dieser Forschung auf quantitativen Umfragen basiert, werden qualitative Verfahren – und hier insbesondere Fokusgruppen – allmählich auch im Bewusstsein unserer AuftraggeberInnen (politische Parteien auf Landes- und Bundesebene, Interessenvertretungen) immer wichtiger. [1]

Fokusgruppen ("Focus Groups") als sozialwissenschaftliche Methode wurden in den 50er Jahren von Robert MERTON aus dem "fokussierten Interview" entwickelt (MERTON & KENDALL, 1946 und BLOOR, FRANKLAND, THOMAS & ROBSON, 2001). Bis heute finden Fokusgruppen in erster Linie im angloamerikanischen Raum Anwendung. Wir definieren die von uns eingesetzten Fokusgruppen – in Anlehnung an die pragmatische Sichtweise in den USA – sowohl als Gruppeninterviews wie auch als Gruppendiskussionen. Ob der Interview- oder der Diskussionscharakter überwiegt, hängt vom Forschungsinteresse ab. [2]

Zwar scheint es auch in den USA einen Trend zu geben, Fokusgruppen als eigenständige Methode zu etablieren1), dennoch wird der Haupteinsatz von Fokusgruppen nach wie vor als Ergänzung zu anderen, in der Regel quantitativen Verfahren gesehen. BLOOR et al. nennen drei verschiedene Zeitpunkte des Einsatzes von Fokusgruppen (vgl. BLOOR et al., 2001, S.13ff.):

Der große Nutzen von Fokusgruppen als Ergänzung zu quantitativen Verfahren liegt darin, dass sie zeigen können, "wie Meinungen im sozialen Austausch gebildet und vor allem verändert, wie sie durchgesetzt bzw. unterdrückt werden. Die Erhebung verbaler Daten lässt sich in Gruppendiskussionen stärker kontextualisieren. Aussagen und Meinungsäußerungen werden hier im Gruppenzusammenhang getätigt, möglicherweise auch kommentiert und sind Gegenstand eines mehr oder weniger dynamischen Diskussionsprozesses." (FLICK, 1996, S.138) Auf einer pragmatischen Ebene ist die Durchführung von Fokusgruppen im Regelfall erheblich kostengünstiger als die Durchführung von qualitativen Einzelinterviews mit einer ähnlichen TeilnehmerInnenzahl. Die Grenzen der Methode liegen in der Komplexität ihrer Datenstruktur: Die Auswertung der Daten kann schwierig sein, da es in jeder Gruppe zu unterschiedlichen Dynamiken kommen kann (die auch von den ModeratorInnen mit beeinflusst werden). Transkripte können unvollständig sein und es ist "nicht immer eindeutig zu klären, auf welchen Stimulus eine bestimmte Äußerung als Reaktion zu interpretieren ist." (LAMNEK, 1995, S.159) [4]

Zudem lassen Fokusgruppen – da nicht repräsentativ – keine Schlüsse auf die Grundgesamtheit der Befragten zu, daher können auch keine verallgemeinerten Aussagen im statistischen Sinn getroffen werden. SORA führt in der Regel so genannte "künstliche" Fokusgruppen durch, ein in der Markt- und Meinungsforschung gängiges Verfahren. Die Gruppen werden nach bestimmten Kriterien künstlich zusammengesetzt und die TeilnehmerInnen kennen einander vor Beginn der Diskussion nicht. Zudem können die meisten von uns eingesetzten Fokusgruppen als "homogene" Gruppen bezeichnet werden, die sich hinsichtlich bestimmter, für das Forschungsziel relevanter Merkmale gleichen (z.B. Geschlecht, Alter, Berufsstatus)2). Die Vorteile homogener Gruppen liegen unserer Ansicht nach darin, dass sie es ermöglichen, Gruppenmeinungen bestimmter "Interessensgruppen" mit vermeintlich ähnlichen Anliegen zu generieren, die dann den kollektiven Meinungen von Gruppen mit anderen Interessenslagen gegenübergestellt werden können (z.B. ArbeiterInnen versus Angestellte). Weiter ermöglichen homogen zusammen gesetzte Gruppen (Gruppen aus vergleichbaren Milieus) mitunter ein "natürlicheres" Gesprächsklima. Die Gefahr ist geringer, dass z.B. Status- und Bildungsunterschiede ein Machtgefälle in der Diskussion bewirken und TeilnehmerInnen "zum Verstummen" bringen, während andere den Diskurs weitgehend dominieren (Beispiel: TeilnehmerInnen mit abgeschlossenem Studium – TeilnehmerInnen ohne Matura). Ein weiterer Vorteil homogener Gruppen besteht darin, dass die Ähnlichkeit der Erfahrungshintergründe der TeilnehmerInnen Identifikationsprozesse erlaubt (Beispiel: Fokusgruppen zur Arbeitsbelastung: Einfache Angestellte haben andere Erfahrungen als AbteilungsleiterInnen). Dies sind allerdings Erfahrungen, die aus unserer Forschungspraxis mit ihren spezifischen Fragestellungen kommen. [5]

Auch die Gruppengröße ist abhängig vom Forschungsziel. Die Literatur spricht von Gruppengrößen zwischen sechs und 17 Personen, wobei eine Gruppengröße zwischen sechs und zehn Personen empfohlen wird (vgl. LAMNEK, 1995, MORGAN, 1998). SORA führt in der Regel Gruppen mit acht bis zwölf TeilnehmerInnen durch. [6]

Die Einsatzmöglichkeiten von Fokusgruppen im Laufe eines politischen Beratungsprozesses sind vielfältig, und sie erfüllen mehrere Funktionen für die AuftraggeberInnen bzw. die ForscherInnen und BeraterInnen. Meist findet unsere Forschungs- und Beratungstätigkeit in Hinblick auf kommende Wahlen statt. Im Verlauf des Forschungs- und Beratungsprozesses zu einer Wahl gibt es eine Reihe von Zeitpunkten, an denen der gezielte Einsatz von Fokusgruppen wertvolle Erkenntnisse liefern kann. In diesem Beitrag werden anhand von Fallbeispielen die folgenden fünf Zeitpunkte und Beispiele für Einsatzmöglichkeiten dargestellt und diskutiert:

Die Fallbeispiele stammen aus der Beratungspraxis und werden dazu genutzt, ein oder zwei spezielle Themen oder Fragestellungen, die sich bei dem jeweiligen Forschungsprojekt gestellt haben, aufzugreifen. Darüber hinaus bietet die qualitative Forschung – und hier insbesondere Fokusgruppen – den AuftraggeberInnen aufgrund der Beschaffenheit des Datenmaterials einen speziellen Nutzen an. Dieser besteht in Feedback- und Kommunikationsfunktionen. Fokusgruppen bieten PolitikerInnen und FunktionärInnen die Chance auf einen Perspektivenwechsel: Die Arbeit mit sprachlichen Äußerungen anstelle von vorgegebenen Antwortkategorien vermittelt Anschaulichkeit, Nähe und Prägnanz von Meinungen, Wahrnehmungen, Meinungsbildungsprozessen und Beurteilungen durch die Bevölkerung. [8]

Jeder Wahlkampf folgt einem gewissen zeitlichen Ablauf. Dieser Ablauf wird – je nach Auftraggeberinteresse – in unterschiedlichem Ausmaß von einem Forschungs- und Beratungsprozess begleitet. Der Forschungs- und Beratungsprozess kann dabei sehr umfassend sein (vorausplanend: z.B. Beginn der Forschung 1-2 Jahre vor der Wahl, um kontinuierlich an strategischen Linien zu arbeiten, inklusive einer Analyse nach der Wahl über Wahlmotive sowie Stärken und Schwächen des Wahlkampfes), er kann aber auch nur punktuell oder kurzfristig zum Einsatz kommen (z.B. Abtesten von Plakatsujets und Bildmaterial wenige Wochen vor der Wahl). [9]

Je nach der Phase, in der sich der Wahlkampf (bzw. der Beratungsprozess) befindet, unterscheiden sich also Nutzen und Zielsetzung (= Einsatzmöglichkeit) von Fokusgruppen. Darüber hinaus lassen sich in einer Reflexion unserer praktischen Erfahrungen die oben angesprochenen Grundfunktionen von Fokusgruppen in der Wahlforschung definieren. [10]

In diesem Sinne wollen wir nicht umfassend, aber prägnant sieben der wichtigsten Funktionen von Fokusgruppen in der Wahlforschung vorstellen, bevor wir mit der Beschreibung der Einsatzmöglichkeiten beginnen. [11]

2. Funktionen von Fokusgruppen in der Politikforschung

2.1 Die "Rückhol"-Funktion

Sowohl PolitikforscherInnen als auch FunktionärInnen und MitarbeiterInnen von politischen Parteien sprechen täglich über Politik – einerseits mit einem außerordentlich hohen Informiertheitsgrad, andererseits aber (weil Teil einer bestimmten Organisation bzw. eines bestimmten sozialen Umfelds) mit stets eingeschränkter Perspektive. Diese Eliten-Diskurse über Politik haben oft wenig gemeinsam mit der Art und Weise, wie politische Themen in der Bevölkerung diskutiert werden. Einerseits weisen "normale" BürgerInnen einen geringeren Informiertheitsgrad über Politik auf als politische Profis, was durchaus auch rational ist (POPKIN, 1992). Auf der anderen Seite gibt es unter den Wahlberechtigten von den politischen Eliten oft differierende Einstellungen bezüglich diverser Themen (Issues), oft deutlich andere Gewichtungen, was die Bedeutung bestimmter Issues betrifft, und schließlich andere Diskursformen, in die Issues eingebettet sind. [12]

Fokusgruppen haben die wichtige Funktion, sowohl ForscherInnen als auch PolitikerInnen und ihre MitarbeiterInnen "auf die Erde zurückzuholen": Die Eliten müssen wieder lernen, wie Politik bei der großen Mehrheit derjenigen diskutiert wird, für die Politik nicht Inhalt des Broterwerbs ist. [13]

Nebeneffekt: Den PolitikerInnen wird dadurch auch klar, dass sie Botschaften wiederholen müssen, damit auch nur ein wenig davon "hängen bleibt". Als Folge davon ergibt sich überdies die Einsicht, dass die Botschaften sorgfältig gewählt werden müssen. [14]

2.2 Die Aufweck-Funktion

Manchmal sind einer Organisation die problematischsten Seiten ihrer Außenwahrnehmung (Parteienimage) nicht bewusst. Politische Parteien versammeln oft Menschen aus ähnlichen Milieus und mit ähnlichen Überzeugungen und sind von dieser Problematik mit hoher Wahrscheinlichkeit betroffen. Fokusgruppen können hier politischen Parteien die Augen öffnen, wie tief verankert gewisse Imagekomponenten bei potentiellen WählerInnen sind. Eine Außenwahrnehmung, die deutlich von der Innenwahrnehmung von FunktionärInnen und BeraterInnen von Parteien divergiert, kann als notwendiges Korrektiv genutzt werden. [15]

2.3 Die Ausgrabungs-Funktion

Ob Politik ein schmutziges Geschäft ist, wird in Leitartikeln immer wieder intensiv diskutiert. Tatsache ist, dass Wahlkampagnen meistens auch negative Botschaften über die euphemistisch "Mitbewerber" genannten politischen GegnerInnen enthalten (negatives Personenimage). Hier kann in Fokusgruppen wertvolles Material quasi ausgegraben werden: Aufgrund der nicht geringen PolitikerInnen-Verdrossenheit fällt DiskussionsteilnehmerInnen zumeist viel Negatives über Politik und PolitikerInnen ein. Es verlangt gut ausgearbeitete Leitfäden und sensible Diskussionsführung, um hier zu differenzierten Ergebnissen zu kommen. Hier, wie in allen anderen Funktionen von Fokusgruppen, geht es auch darum, nicht durch direktive Vorgangsweisen die Einstellungen und Vorurteile, die sich ForscherInnen und AuftraggeberInnen bisweilen teilen, zu reproduzieren, sondern herauszufinden, was die TeilnehmerInnen tatsächlich an Kritik vorbringen. Aus den Wahrnehmungen und Meinungen der TeilnehmerInnen können Schwachstellen der politischen MitbewerberInnen herausgearbeitet werden. Besonders interessant ist dabei die Frage, bei welchen "Ausgrabungsgegenständen" sich Gruppen einigen bzw. wo Polarisierungen innerhalb oder zwischen Gruppen auftreten. Auf Basis dieser Erkenntnisse können Kommunikations- und Argumentationslinien entwickelt werden, die erfolgreich Kritik in spezifischen Zielgruppen transportieren. [16]

2.4 Die Argumentationslinien-Funktion

Trotz Trends wie Personalisierung, Horse-Race-Journalismus und Verknappung der Botschaften in den Werbemitteln werden Wahlkämpfe nach wie vor auch über schlüssige Argumentationslinien gewonnen bzw. durch den Mangel an solchen verloren. Fokusgruppen bieten dafür wertvolles Material, weil sichtbar wird, wie in verschiedenen Konstellationen politische Argumentationslinien vorgebracht und diskutiert werden. Eine Argumentationskette, die in Fokusgruppen "überlebt", hat gute Chancen, auch im Wahlkampf erfolgreich eingesetzt zu werden (siehe auch Test-Funktion). [17]

2.5 Die "Sager"-Funktion

In vielen Fokusgruppen tauchen ausgesprochene "Sager" auf: Pointierte Formulierungen, die bestimmte Sachverhalte so auf den Punkt bringen, dass bei den TeilnehmerInnen der Eindruck entsteht, "da hat jemand den Nagel auf den Kopf getroffen". Solche "Sager" können oft wörtlich in der politischen Kommunikation bzw. für die Erarbeitung der Kommunikationsstrategie eingesetzt werden. [18]

2.6 Die Test-Funktion

Bevor Werbemittel, politische Forderungen oder Kritik an den GegnerInnen tatsächlich eingesetzt werden, ist es empfehlenswert, dieselben in Fokusgruppen einem Test zu unterziehen (siehe 3.3). Hier zeigt sich sehr schnell, wie entwickelte Kommunikationslinien sich bewähren und welche ihrer sprachlichen oder gestalterischen Dimensionen "durchfallen". Während das Aussieben der von den TeilnehmerInnen abgelehnten Linien oft recht leicht fällt, ist die Entscheidung für eine von allen favorisierte Linie schwieriger. Hier ist es wichtig, die Argumente der TeilnehmerInnen in Bezug auf – eventuell durch Umfragen – geklärte Ziele zu evaluieren (z.B. will eine Partei eher als "modern" oder als "kompetent" wahrgenommen werden?). [19]

Im Fall von Werbemitteln ist es unserer Erfahrung nach sinnvoll, TeilnehmerInnen zuerst teilstrukturiert ein individuelles Urteil abgeben zu lassen (z.B. durch schriftliches Material). Einerseits ist dieses Material für die Auswertung sehr brauchbar, andererseits entwickeln die TeilnehmerInnen so ein "gefestigteres" Urteil und sind weniger anfällig dafür, die eigene Meinung zugunsten von Mehrheitsmeinungen oder den Aussagen dominanter TeilnehmerInnen zurückzustecken (zum Thema Individual- versus Gruppenmeinung siehe auch 3.2). [20]

2.7 Wechselspiel mit quantitativen Erhebungen: Vorbereitungs- und Interpretations-Funktion

Die Verbindung von qualitativen und quantitativen empirischen Methoden ist gerade in der Wahlforschung sinnvoll. Im Forschungsprozess können Fokusgruppen vor oder nach einer Umfrage durchgeführt werden. Sie liefern wertvolles Material für standardisierte Fragebögen, indem das Vorhandensein, die Wichtigkeit und die Ausprägung von Issues besser eingeschätzt werden können. In den Fokusgruppen aufgetauchte Argumentationsketten und Formulierungen lassen sich oft in Fragebögen einbauen und in weiterer Folge quantitativ evaluieren ("pre-pilot focus groups"). [21]

Von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit ist die Hilfe, die das in Fokusgruppen gewonnene qualitative Material bei der Interpretation quantitativer Ergebnisse bietet. Oft ist aufgrund einer Umfrage nicht klar, warum beispielsweise eine Politikerin große Beliebtheit aufweist, eine Partei bestimmte Image-Schwächen hat oder gewisse Argumentationslinien nicht greifen. Qualitative Daten können ein Verständnis "näher an der Wirklichkeit" erleichtern und dadurch die Interpretation quantitativer Ergebnisse entscheidend verbessern ("aid to interpretation"). [22]

3. Einsatzmöglichkeiten von Fokusgruppen in der Politikforschung

Im folgenden Abschnitt werden fünf Möglichkeiten vorgestellt, wie Fokusgruppen im Laufe eines Beratungsprozesses für Wahlen eingesetzt werden können. Die Möglichkeiten stammen alle aus der Praxis; sie stellen eine Auswahl dar und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Jedes der genannten Fallbeispiele soll einen kurzen Einblick in eine spezifische Problemstellung geben und Einsatzmöglichkeiten veranschaulichen. [23]

Das Erkenntnisziel bestimmt die Methodik: Die hier auszugsweise vorgestellten Projekte unterscheiden sich in ihrem Design (kaum- bis teil-strukturierte Leitfäden mit viel Raum für Diskussionen bis hin zu Gruppen mit einer Vielzahl an verbalen und visuellen Inputs und starker Strukturierung, Kombination mit Fragebogenelementen) und in der Auswertungsstrategie (Ebene, d.h. Tiefe, und Detailliertheit der Analyse: verschiedene inhaltsanalytische Verfahren, z.B. Indexing, Valenz- oder Kontingenzanalyse, zusammenfassende bis explizierende Inhaltsanalyse3). Da wir uns in diesem Beitrag aber auf grundlegende Einsatzmöglichkeiten und Funktionen von Fokusgruppen beziehen, können diese interessanten Aspekte nur am Rande zur Sprache kommen. [24]

Grundsätzlich wollen wir diesem kurzen Einblick die Erfahrung voranstellen, dass wir uns mit unserer Forschungsarbeit beinahe täglich in einem Spannungsfeld zwischen den Gütekriterien und Arbeitsstandards der Wissenschaft und jenen der marktgebundenen, kommerziellen Markt- und Meinungsforschung bewegen. Während die Wurzeln qualitativer Forschung und "Herangehensweise an die Erfassung der Welt" – zumindest im europäischen Raum – tief in der geisteswissenschaftlichen Tradition liegen und in einem wissenschaftlichen Diskurs verankert sind, verläuft die Praxis der außeruniversitären Arbeit nach anderen Regeln und mit Beschränkungen. So müssen Auswertungen qualitativer Daten meist sehr zügig und bis zu einem fix vereinbarten Zeitpunkt stattfinden (Einhaltung von Deadlines), darüber hinaus stehen nur beschränkte Mittel zur Verfügung. Dadurch wird die Analysetiefe beeinträchtigt und oft gelangen viele theoretisch interessante Dimensionen nicht zur Auswertung. Im Mittelpunkt steht nicht das Interesse der ForscherInnen am Forschungsgegenstand, sondern die Relevanz der Ergebnisse für die AuftraggeberInnen. Planung, Durchführung und Auswertung der Gruppen werden gemeinsam mit den AuftraggeberInnen besprochen und folgen deren Fragestellungen und finanziellen Möglichkeiten. Das Prinzip lautet: Das Vorgehen (Anzahl der unterschiedlichen Gruppen, Grad der Offenheit, Art der Auswertung etc.) soll dem Erkenntnisinteresse der AuftraggeberInnen angepasst und geeignet sein, deren zentrale Forschungsfragen zu beantworten. Eine zentrale Herausforderung unserer Arbeitspraxis besteht oft darin, ein Forschungsdesign zu entwickeln, das diese Anforderungen mit beschränkten Ressourcen und der Einhaltung von Qualitätsstandards in Einklang zu bringen vermag. [25]

3.1 Ideengewinnung und exploratives Sondieren

Zu Beginn eines auf eine Wahl bzw. eine Kampagne ausgerichteten Forschungsprozesses stehen im Mittelpunkt oft ausgewählte politische Issues und Sachfragen, die Interessenslagen der TeilnehmerInnen, ihre Erwartungen an die Politik im Allgemeinen oder an eine bestimmte Partei/Fraktion/Institution im Speziellen sowie die Wahrnehmung von politischen RepräsentantInnen, Parteien, Fraktionen, Institutionen etc. Fokusgruppen eignen sich besonders gut zur Ideengewinnung und zum explorativen Sondieren von Einstellungen und Erwartungen. Dadurch können sich wertvolle Hinweise nicht nur für die weiterführende quantitativ-empirische Arbeit, sondern auch für die politische Praxis selbst ergeben. Schließlich werden Fokusgruppen zur regelmäßigen Sondierung für die laufende politische Schwerpunktsetzung eingesetzt. [26]

3.1.1 Fallbeispiel 1: Anliegen und Einstellungen zur Kommunalpolitik

Im Jahr 1998 führten wir Fokusgruppen über Anliegen und Einstellungen zur Kommunalpolitik durch. Die Ergebnisse sollten die Grundlage für eine repräsentative Umfrage bilden. Der gesamte Forschungsprozess, der aus mehreren Teilprojekten bestand, diente der Vorbereitung eines Gemeinderatswahlkampfes. Die Fokusgruppen wurden zum Zweck des explorativen Sondierens am Beginn des Forschungsprozesses eingesetzt. [27]

Es wurden zwölf Gruppen nach speziellen Zielgruppen zusammengesetzt, die basierend auf früherer Umfrageforschung als WählerInnenpotential der Partei definiert worden waren (z.B. Jungakademikerinnen, öffentlich Bedienstete aus Pflege- und Sozialberufen, etc.). [28]

Ziel war es, aus den jeweiligen Gruppen zu erfahren,

Entsprechend diesen Fragestellungen wurde ein halbstrukturierter Interviewleitfaden entwickelt. Die Herausforderung in der Auswertung der Fokusgruppen bestand darin, das aufgrund der Offenheit der Fragestellungen und aufgrund der Dynamik der Diskussion sehr vielfältige und umfangreiche Material zu strukturieren. [30]

Grundsätzlich gilt: Je offener die Fragetechnik des Moderators/der Moderatorin und je unstrukturierter der Leitfaden ist, desto komplexer ist auch das auszuwertende Textmaterial. Bei der Auswertung des Transkripts kann ganz grob zwischen folgenden Vorgehensweisen unterschieden werden: einer das Material zusammenfassenden, kategorisierenden und einer den Text explizierenden oder interpretierenden (LAMNEK, 1995, FLICK, 1996). Im Fall von Kategorienbildung kann man einzelne Textstellen unter bereits vorhandenen theoretischen Konstrukten und Kategorien subsumieren (deduktives Vorgehen) oder aus dem Textmaterial heraus erst Kategorien bilden (induktives Vorgehen). In der Praxis wird häufig eine Kombination dieser beiden Vorgehensweisen gewählt. Rein induktives Vorgehen ist eher als idealtypisches Verfahren zu bezeichnen, da auch ForscherInnen immer schon mit bestimmten Vorannahmen im Kopf an jede neue Untersuchung herangehen (WITZEL, 2000). So wird etwa in der neueren Diskussion zur empirisch begründeten Theoriebildung das Verfahren des abduktiven Schlusses vorgeschlagen, bei dem empirisches Datenmaterial unter Rückgriff auf theoretisches Vorwissen interpretiert wird (KELLE, 1994). [31]

Im dargestellten Fall wurden, basierend auf Vorwissen aus früheren Forschungen, aus dem Datenmaterial heraus Kategorien gebildet. Dieses Vorgehen ist vergleichbar der zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach MAYRING, wo "ähnliche Paraphrasen gebündelt und zusammengefasst werden." (FLICK, 1996, S.213). Auch bei der von GLASER und STRAUSS entwickelten "Grounded Theory" werden aus dem Material heraus Kategorien gebildet. Allerdings ist hier der Forschungsprozess insofern offener, als zur Sättigung der Theorie immer wieder neue Daten erhoben werden, bis sich die wichtigsten Schlüsselkategorien herausgebildet haben (STRAUSS, 1994). [32]

Verhältnismäßig leicht war die Bildung von Kategorien noch bei der Beurteilung des Themas "Leben in der Stadt": Ohne größere Mühe konnten neun Kategorien wie "Verkehr", "Arbeitsmarkt und Bildung", "Kinder und Jugendliche" oder "Sicherheit" induktiv gebildet und die Diskussionsbeiträge zugeordnet werden. Schwieriger gestaltete es sich jedoch die Wahrnehmung der Parteien zu kategorisieren, da eine Vielzahl von Aspekten und Blickwinkeln in die Diskussionen eingebracht wurde. Diese Problematik wird uns auch in späteren Fokusgruppen wieder begegnen. [33]

Schließlich wurde das Material zur Wahrnehmung der Partei in sieben Kategorien geordnet:

Schließlich wurden aus den Stärken und Schwächen in diesen Kategorien – vor allem im Vergleich mit den anderen wahlwerbenden Parteien – Empfehlungen für die weitere Strategie abgeleitet: Die Analyse der qualitativen Daten lieferte grundlegendes Wissen über Themen und Problemstellungen in der Zielgemeinde und, noch spezifischer, für bestimmte Zielgruppen in der Zielgemeinde. Um zentrale Fragestellungen zu validieren und Themen einzugrenzen, wurde als Folgeuntersuchung eine repräsentative Umfrage empfohlen. Die in den Fokusgruppen genannten Sachthemen ("Anliegen") wurden in eine 27 Items umfassende Batterie eingearbeitet, mit der nicht nur die Wichtigkeit von Themen, sondern auch die Kompetenzzuordnung zu den Parteien erhoben wurde. Darüber hinaus wurden in den Fokusgruppen genannte Imagezuschreibungen sowie emotional besetzte Aussagen ("Vorurteile") über die Partei in ihrer quantitativen Verteilung abgefragt und bezüglich ihrer Effekte auf das Wahlverhalten analysiert. Die Ergebnisse der quantitativen Umfrage – repräsentativ und daher verallgemeinerbar – gingen in die Strategieentwicklung für die auftraggebende Partei ein. [35]

3.2 Imageanalyse von KandidatInnen und Parteien

Die Positionierung von KandidatInnen spielt eine wichtige Rolle, speziell im Verhältnis zur Positionierung der KandidatInnen anderer Parteien. Mittels qualitativer Verfahren können bestehende Imagezuschreibungen sowie positiv besetzte ("gewünschte") Imagekomponenten erfasst werden: In Fokusgruppen lässt sich herausfinden, wie bestimmte Zielgruppen KandidatInnen wahrnehmen, und wo Stärken und Schwächen ihrer Positionierung liegen (siehe 2.2). [36]

3.2.1 Fallbeispiel 2: Positionierung von Partei und Kandidat

Im Juni 2001 war Österreich nach damaligem Ermessen noch zweieinhalb Jahre von der nächsten Nationalratswahl entfernt. Zu diesem Zeitpunkt führten wir für eine Parlamentspartei acht Fokusgruppen in vier Bundesländern durch. Ziel war es, die damalige Positionierung der Partei und ihres Parteichefs im Hinblick auf die politische Konkurrenz zu untersuchen. Die Ergebnisse sollten in die Planung der politischen Schwerpunktsetzung einfließen sowie als Basis für eine repräsentative Umfrage dienen. [37]

Dem Diskussionsteil der Fokusgruppen wurde ein schriftlicher Teil vorangestellt, um auch erste, spontane, von der Gruppe unbeeinflusste Meinungen und Beurteilungen der TeilnehmerInnen erfassen zu können. Dies geschah in Form eines schriftlichen Kurzfragebogens – wobei vom freien Assoziieren über offene Fragen mit oder ohne Begrenzung der Antworten bis hin zu standardisierten Fragen verschiedene Varianten zum Einsatz kamen. [38]

Die Beeinflussung der TeilnehmerInnen durch die Gruppe stellt ja in der Literatur einen immer wieder auftauchenden Kritikpunkt an der Methode dar:

"Kaum reflektiert werden in den Handbüchern über Fokus-Gruppendiskussionen (z.B. bei Vaughn et al. 1996) die hemmenden Einflüsse einer Gruppe auf die Meinungsäußerung der einzelnen TeilnehmerInnen. Mechanismen sozialer Kontrolle, die Herausbildung von informellen MeinungsführerInnen usw. können der 'freien Meinungsentfaltung' einzelner TeilnehmerInnen ausgesprochen hinderlich sein (vgl. dazu auch Merton et al. 1990: 147ff.)." (LITTIG & WALLACE, 1997, S.3) [39]

Nun werden andererseits Fokusgruppen unter anderem genau deshalb eingesetzt, um die in sozialen Gruppen wirksamen Mechanismen, das Diskutieren von Themen, das Verarbeiten von Botschaften im Kleingruppenkontext sichtbar und nachvollziehbar zu machen – beispielsweise um herauszufinden, wie stark ein Thema polarisiert oder wie Argumentationslinien in der diskursiven Konfrontation mit anderen entwickelt, beibehalten, verändert oder aufgegeben werden. Bei Meinungs- und Imagebildungsprozessen ("Kandidat X ist sympathisch", "Kandidatin Y weiß, wie's läuft in der Politik") wäre es naiv anzunehmen, dass diese auf rein individueller Ebene, ohne Interaktion und Auseinandersetzung mit anderen Menschen stattfinden. [40]

Deshalb versuchen wir, bei Fokusgruppen beide Situationen zu berücksichtigen: Mit einem schriftlichen Anfangsteil erfassen wir die spontanen, von der Fokusgruppe noch unbeeinflussten Meinungen, in der Diskussion kommen dann die Gruppenmechanismen zur Wirkung. Theoretisch ließen sich so auch Veränderungen der im schriftlichen Teil dargelegten Primärmeinungen im Diskussionsverlauf verfolgen – in der Praxis haben wir für eine derartig ausführliche Analyse bisher allerdings noch keine/n AuftraggeberIn gefunden. Dies ist bedauerlich, da gerade eine solche Tiefenanalyse Aufschluss geben könnte, wie der Diskussionsverlauf in der Gruppe (z.B. inhaltliche Argumente, politische Stellungnahmen, aber auch Meinungsäußerungen über Aussehen der KandidatInnen oder emotionale Kommentare) den politischen Meinungsbildungsprozess (bzw. die Wählerpräferenzen) beeinflussen. [41]

Auch in der Literatur werden Gruppendiskussionen unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert: LAMNEK etwa unterscheidet zwischen zwei unterschiedlichen Untersuchungsgegenständen von Gruppendiskussionen: Der kollektiven Meinung als Summe der individuellen Meinungen, wie dies bei Umfragen der Fall ist, und der Gruppenmeinung als eine über die einzelne Sichtweise hinausgehende, im Gruppenprozess auszuhandelnde Position (LAMNEK, 1995, S.143f.). Von FLICK wird darauf hingewiesen, dass "im Gegensatz zu Interviews in der Umfrageforschung (...) die Gruppendiskussion der Weise, wie Meinungen im Alltag gebildet, geäußert und ausgetauscht würden, eher entspricht." (FLICK, 1995, S.132f.) [42]

Dieser Position folgt auch unser Ansatz im beschriebenen Fallbeispiel. So ermöglicht die Diskussion der unterschiedlichen Standpunkte, dass ein realer Meinungsbildungsprozess abgebildet wird, der die Haltungen von WählerInnen eher sichtbar macht als die aus dem sozialen Kontext heraus gelöste Einzelmeinung, wie sie in einem Fragebogen abgefragt wird. [43]

Im vorliegenden Fallbeispiel wurden die TeilnehmerInnen zu Beginn gebeten, zu den Eigenschaften der vier Parteichefs frei und spontan schriftlich zu assoziieren. Am Ende der Diskussion wurden 24 ausgewählte Kandidateneigenschaften noch einmal schriftlich abgefragt, wobei die TeilnehmerInnen angeben sollten, auf welchen der vier Politiker diese Eigenschaften am meisten und auf welchen am wenigsten zutreffen. Aus schriftlichem Material und Diskussionsbeiträgen wurden dann die wahrgenommenen Eigenschaften der vier Parteichefs herausgearbeitet. Um die Beurteilungen der Politiker in Kategorien einzuteilen, wurde ein theoriegeleitetes Schema benutzt. Das verwendete Schema wurde von KLEIN und OHR zur Kategorisierung von Kandidateneigenschaften entwickelt (KLEIN & OHR, 2000). SORA hat dieses theoretische Schema mit dem Verfahren der "Grounded Theory" überarbeitet. Die Grundlage für die Überarbeitungen liefern dabei Daten aus Eigenforschung, d.h. dass eine Kombination aus deduktivem und induktivem Vorgehen zur Anwendung kommt. Das in diesem Erarbeitungsprozess entstandene Kategorienschema muss sich ständig der Bewährung in der Praxis unterziehen und wird dementsprechend überprüft, abgeändert und ergänzt. [44]

Die methodische Vorgehensweise der Zuordnung von Eigenschaften zu Kategorien ist auch vergleichbar mit dem bei BLOOR et al. beschriebenen Analyseverfahren des "Indexing", wobei dort die Kategorien aus dem Material heraus gebildet und im Laufe des Verfahrens auf einige wenige Kernkategorien reduziert werden: "The aim of indexing is to bring together all extracts of data that are pertinent to a particular theme, topic or hypothesis." (BLOOR et al., 2001, S.63) [45]

Das Kategorienschema für Kandidateneigenschaften unterscheidet vier "politische" und drei "menschliche" Dimensionen.

Dimension

Beispiele für positive Imageformulierungen

Beispiele für negative Imageformulierungen

Managerqualitäten, Politische Stärke

Guter Diplomat, guter Stratege, konsequent, taktisch, engagiert, initiativ, kämpferisch, souverän, zielorientiert

Kann sich nicht
durchsetzen, wenig überzeugend, wenig tatkräftig, nicht erfolgreich, wankelmütig

Kompetenz, Problemlösung Sachkompetenz

Kompetent, sachlich, gute Ideen und Lösungsansätze, informiert, zukunftsorientiert

Inkompetent, inhaltsleer, ideenlos

 

Parteipolitiker, Ideologie

Typischer/untypischer Vertreter der jeweiligen Partei, links, rechts, grün, rot, schwarz, blau, liberal, Parteiideologe, -soldat, -karrierist

Vertrauensmann-Interessenvertreter

Einsatz für bestimmte Interessensgruppen (Schwache, Mächtige, kleine Männer und Frauen), sozial denkend, vertrauenswürdig

mangelnde Bürgernähe, nicht um das Wohl bestimmter Interessensgruppen bzw. Österreichs bemüht

 

Kommunikations-verhalten und Selbstinszenierung

Eloquent, guter Redner, Rhetoriker, redegewandt, kommunikativ, argumentationsstark

Kleinlaut, Dampfplauderer, schweigt, sagt zu wenig, vorlaut, provokant, falsche Wortwahl

 

Integrität

Ehrlich, authentisch, geradlinig, seriös

 

Unehrlich, verlogen, verschlagen, populistisch, skrupellos, Demagoge, intolerant

"Menschliches", persönliche Merkmale

Sympathisch, nett, intelligent, positives äußerliches Erscheinungsbild, Ausstrahlung, Charisma

Farblos, egoistisch, aggressiv, machtgierig, negatives äußerliches Erscheinungsbild, geringe Ausstrahlung

Tabelle 1: Dimensionen von PolitikerInneneigenschaften [46]

Aufgrund dieses Schemas4) war es möglich, die Stärken und Schwächen der Parteichefs miteinander zu vergleichen und daraus Empfehlungen für die Kommunikationsstrategie zu entwickeln – die letztendlich angesichts einer um ein Jahr vorgezogenen Nationalratswahl auch direkt in das Kampagnen-Briefing einfließen konnten. [47]

3.2.2 Fallbeispiel 3: Positionierung eines Kandidaten

Eine methodisch andere Herangehensweise veranschaulicht ein Forschungsprojekt, das für eine wahlwerbende Partei in einem der österreichischen Bundesländer durchgeführt wurde. Die Fokusgruppen fanden etwa zehn Monate vor der Wahl als Teil eines kontinuierlichen Beratungsprozesses statt. Charakteristisch für das Projekt war der zielgruppenspezifische Ansatz: Aufgrund der soliden Datenlage (frühere Studien) war es möglich, sehr spezifisch die Wählerschichten (KernwählerInnen, Potential, Verluste = "abwandernde" WählerInnen etc.) der auftraggebenden Partei in verschiedenen soziodemographischen Schichten zu definieren. Diese soziodemographische (und auch geographische) Information wurde mit Daten des Mikrozensus verbunden, um die Größe der Zielgruppen zu schätzen. Auf Basis dieser Analysen wurden spezifische Zielgruppen ausgewählt, auf die der Wahlkampf abgestimmt werden sollte. [48]

Fokus der Studie war die Wahrnehmung des Spitzenkandidaten der Partei und seiner KonkurrentInnen mit dem Ziel, eine Strategie für seine Positionierung in spezifischen Zielgruppen zu entwickeln. Daher bestimmte die Zielgruppendefinition auch die Zusammensetzung der Fokusgruppen (z.B. "Frauen, die im Gesundheitswesen beschäftigt sind", "Arbeiter über 40 Jahre in der Region X", "Selbständig Erwerbstätige in der Region Y"). Die Gruppen waren homogen zusammengesetzt und wurden sehr strukturiert und mit vielen Inputs durchgeführt. Bei diesem Projekt wurden ausführlich Images der KandidatInnen, wichtige politische Themen sowie zusätzlich Inserattests in die Analyse inkludiert. Das Ausmaß der Strukturierung bei der Moderation der Gruppen hat allerdings starke Auswirkungen auf die Qualität der Daten: Durch die stärkere Strukturierung ist das erhaltene Material leichter zu ordnen und zu vergleichen, darüber hinaus ermöglicht sie die Bearbeitung einer Vielzahl von Themen in relativ kurzer Zeit. Die Breite und Vielfalt der diskutierten Inputs geht allerdings auf Kosten von Tiefe, Detailliertheit und Differenziertheit, die sich idealer Weise bei wenig strukturierten und nicht-direktiv geführten Fokusgruppen entfaltet (auch hier gilt: Das Erkenntnisziel bestimmt die Auswahl der Methodik). [49]

Neben assoziativen Techniken wurde in diesem Projekt mit einer "Technik der Geschichten" gearbeitet: Alle TeilnehmerInnen erhielten ein Blatt mit mehreren kurzen Geschichten über den Spitzenkandidaten. Diese Geschichten bestanden jeweils aus drei bis vier prägnanten Sätzen, die verschiedene, mitunter wenig bekannte Fakten aus dem Leben des Kandidaten herausgriffen und spezifische Aspekte seiner Persönlichkeit sowie Kompetenzen beleuchteten:

Beispiel 1:

"XY ist der Sohn einfacher Leute aus der Region Z. Obwohl er in der Wirtschaft und in der Politik Karriere gemacht hat, hat er die Sorgen und Nöte der kleinen Leute niemals vergessen. Wirtschaftlich sinnvoll und sozial ausgewogen sind für ihn kein Widerspruch."

Beispiel 2:

"XY' Weg in die Politik ist kein üblicher. Als erfolgreicher Sportler und Wirtschaftsfachmann unterscheidet er sich wohltuend von den Berufsfunktionären und Apparatschiks, die in allen Parteien leider meistens das Sagen haben. Als so genannter Quereinsteiger ist er keiner Hausmacht in seiner Partei verpflichtet, als Mann der Wirtschaft und erfolgreicher Sportler gilt seine ganze Kraft dem Kampf für Arbeitsplätze". [50]

Bei diesem konkreten Projekt lag der Schwerpunkt des Interesses auf der Positionierung des "eigenen" Kandidaten, und weniger auf jener der GegenkandidatInnen, daher wurde die Technik der Geschichten nur auf eine Person angewendet. Dies kann aber selbstverständlich auch anders gehandhabt werden. Bei der Zusammenstellung der Geschichten wurde darauf geachtet, mit der Auswahl der Aspekte den RezipientInnen verschiedene kommunikative Angebote zu machen. Konkret bedeutet dies, dass beim Schreiben der Geschichten gezielt bestimmte Aspekte der Person in den Vordergrund gerückt und Imagebilder erprobt werden (die Geschichten wurden auf Grundlage von Fakten aus dem Leben des Kandidaten geschrieben). Das Beispiel 1 zielt darauf ab, die Verbundenheit des Kandidaten mit "dem einfachen Volk" zu betonen, sowie seine Verbindung mit der Region. Darüber hinaus werden die Schlüsseldimensionen "Wirtschaftskompetenz" und "Erfolg" angeboten. Die TeilnehmerInnen hatten konkret die Aufgabe, jene zwei Geschichten auszuwählen, die sie "am meisten beeindruckten". Die Formulierung "beeindrucken" wurde bewusst gewählt, weil im Zentrum des Forschungsinteresses nicht Sympathiewerte standen, sondern die Suche nach wirksamen Inszenierungen. Die Präferenzen der TeilnehmerInnen wurden dokumentiert und nach Häufigkeit ausgezählt. Im Anschluss daran wurden die drei meistgenannten Geschichten für eine ausführliche Diskussion herangezogen. Die TeilnehmerInnen hatten die Gelegenheit, sich darüber auszutauschen, warum sie eine bestimmte Darstellung beeindruckend fanden (bzw. warum nicht). Die Reaktionen und Bewertungen auf die verschiedenen kommunikativen Angebote wurden als wichtige Hinweise für die Positionierung des Kandidaten verwendet. Einer der Vorteile der "Technik der Geschichten" liegt darin, dass zwei Vorgehensweisen kombiniert werden können: Zum einen wird sichtbar, welche Geschichten (= Inszenierungen) in bestimmten Zielgruppen wirksam sind, zum zweiten lassen sich bereits spezifische Formulierungen und Kommunikationslinien abtesten. Beide Informationen sind unverzichtbar, um eine intelligente und wirksame Positionierung eines Kandidaten oder einer Kandidatin durchzuführen. [51]

3.3 Werbemitteltest

In jeder Kampagne kommt der Zeitpunkt, da die Entwürfe der Werbeagenturen konkrete Formen angenommen haben, aber für die Auswahl einer endgültigen Linie, einzelner Sujets oder Slogans noch Entscheidungen getroffen werden müssen. Fokusgruppen eignen sich in diesem Zusammenhang ausgezeichnet, um festzustellen, welche der Entwürfe sich durchsetzen bzw. welche Bilder, Assoziationen und Bewertungen sie bei den RezipientInnen hervorrufen. Aber auch wenn die Entscheidungen für die Materialien grundsätzlich bereits getroffen sind, bietet ein Werbemitteltest zusätzliche Sicherheit, um eventuelle grobe Fehler noch rechtzeitig zu korrigieren. [52]

3.3.1 Fallbeispiel 4: Entscheidungshilfe für Plakat- und Inseratsujets sowie Slogans

Etwa zweieinhalb Jahre nach den ersten Fokusgruppen, die eine sehr offene, explorative Bestandsaufnahme darstellten (Fallbeispiel 1), und vier Monate vor der betreffenden Wahl wurden für dieselbe Partei die Sujets für Plakate, Inserate sowie die Slogans abgetestet. Zum Test lagen drei Plakatserien vor, die sich durch Bildelemente sowie Bildüberschriften und Slogans, nicht jedoch in der grafisch-formalen Gestaltung (Hintergrund-, Schriftfarben, Schrifttyp etc.) unterschieden: Eine Serie mit gezeichneten Cartoons, eine Serie mit Schwarz-Weiß-Fotografien, die "Alltags-Menschen" darstellten, sowie eine Serie mit Farbfotografien der SpitzenkandidatInnen zusammen mit anderen Menschen. Zudem wurden acht verschiedene Slogans getestet, die zum Teil bereits in die Testmaterialien integriert waren. [53]

Insgesamt fanden vier Fokusgruppen in vier Altersstufen mit jeweils gleichmäßiger Verteilung von männlichen und weiblichen TeilnehmerInnen statt. Der Werbemitteltest bestand aus einem schriftlichen Teil von etwa dreißig Minuten und einer anschließenden Diskussion von etwa einer Stunde. Zunächst wurden den TeilnehmerInnen die drei Plakatserien in einer Mappe vorgelegt mit der Bitte, dazu frei zu assoziieren und ihre Eindrücke, Gefühle und Erwartungen aufzuschreiben. Dann füllten die TeilnehmerInnen einen Fragebogen mit einem gestützten Assoziationstest aus. Abschließend wurden die TeilnehmerInnen gebeten, die acht Slogans nach Gefallen zu reihen. [54]

Bei der Auswertung des freien Assoziationstests sowie der Diskussion wurde das Hauptaugenmerk auf Pro und Contra zu den einzelnen Bild- und Textelementen gelegt. Die Assoziationen der TeilnehmerInnen wurden dabei stark auf der sprachlich-begrifflichen Ebene analysiert – beispielsweise verwendeten TeilnehmerInnen in ihren Assoziationen zur Serie "Alltags-Menschen" häufig Begriffe, die mit "Nähe" und "Menschen" zu tun hatten: "Bürgernähe", "volksnah", "menschennah", "zeitnah", "Mensch/Menschen", "sympathische, schöne, interessante Menschen", "Menschen aus der Masse", "Serie stellt Menschen in den Vordergrund", "menschlich". [55]

Die Wahrnehmung der Serie "Fotos PolitikerInnen plus Menschen" hingegen wurde auffallend oft mit Begriffen assoziiert, die mit "sprechen" zu tun haben: "Ansprechend", "spricht an", "spricht deutlich aus, was das Ziel ist", "spricht Sachthemen an", "hat eine klare Aussprache", "klare + deutliche Aussagen", "kräftige Aussage". [56]

Diese Auswertungsmethode leitet sich von der "Kontingenzanalyse" ab, die von OSGOOD und ANDERSEN entwickelt wurde (vgl. LAMNEK, 1995, S.195). Die Kontingenzanalyse untersucht Assoziationsstrukturen zwischen verschiedenen Begriffen. Fokus der Analyse sind die Assoziationen, die Personen zu bestimmten Stimuli einfallen und die (sprachlichen) Symbole, die überdurchschnittlich oft in Zusammenhang mit vorgegebenen Symbolen (in unserem Fall Fotos) auftreten. [57]

Da keine der drei Plakatserien als eindeutige Favoritin aus dem Werbemitteltest hervorging, empfahlen wir dem Auftraggeber und dessen Werbeagentur eine Mischform: Die Plakat-Serie mit den Cartoons, die als witzig und originell empfunden wurde, allerdings auch mit Bedrohung, Angst und mangelnder Wärme assoziiert wurde, als Eye-Catcher für eine erste Welle zu verwenden und die negativen Assoziationen dafür zu nutzen, "Bedrohungsszenarien" darzustellen, die in einer zweiten Welle aufgelöst werden sollten. Für die zweite Welle empfahlen wir die Serie "Fotos PolitikerInnen plus Menschen", da diese am häufigsten mit Gespräch, Dialog und Kommunikation assoziiert wurde. Von der Serie "Alltagsmenschen schwarz-weiß" wurde wegen häufiger Assoziationen mit Öde, Trostlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Farblosigkeit etc. auch aufgrund des Wahlkampftermins im Winter abgeraten. Bei den Slogans wurden neben den positiven und negativen Assoziationen auch die Ergebnisse der Reihungen im schriftlichen Fragebogen berücksichtigt. [58]

3.4 Wahlkampf-Monitoring

In der "heißesten" Phase eines Wahlkampfs ist es für eine wahlwerbende Partei wichtig, abseits der massenmedial verbreiteten Einschätzungen und Umfragen mit Informationen über ihre "Performance" versorgt zu werden. Fokusgruppen ermöglichen Rückmeldungen aus der Bevölkerung, die ein Korrektiv zur Einschätzung der JournalistInnen darstellen können. [59]

3.4.1 Fallbeispiel 5: Online-Fokusgruppen-Panel ("Watchgroups")

Im Nationalratswahlkampf 2002 setzten wir erstmals für eine Partei Online-Fokusgruppen ein. Ziel war es, die Stimmungs- und Meinungslage im Wahlkampfverlauf zu erfassen und einen kontinuierlichen Gradmesser für tagesaktuelle Themen und Argumente zur Verfügung zu haben. Dafür organisierten wir zwei Watch-Groups, also fix zusammengesetzte TeilnehmerInnenrunden, die in den letzten sieben Wochen vor der Wahl wöchentlich zu einer Online-Fokusgruppe zusammentrafen: Eine "jüngere" Gruppe mit TeilnehmerInnen bis 33 Jahre und eine "ältere" mit TeilnehmerInnen ab 34 Jahren. Natürlich war es nicht möglich, alle 14 Fokusgruppen mit exakt den gleichen TeilnehmerInnen durchzuführen – von einem "Pool" von elf TeilnehmerInnen in der jüngeren und zehn in der älteren Gruppe nahmen jedoch durchschnittlich acht TeilnehmerInnen an der wöchentlichen Fokusgruppe teil. Dies stellt eine erstaunlich konstante Beteiligung dar, die wir auf zwei Faktoren zurückführen: Einerseits war die Teilnahmeentschädigung so gestaffelt, dass man mit jeder weiteren Teilnahme eine höhere Entschädigung für alle insgesamt besuchten Fokusgruppen erzielen konnte. Andererseits fanden die TeilnehmerInnen mit der Zeit merklich Gefallen an den "Politik-Chats" – was in der letzten Fokusgruppe sogar zu Wünschen, diese Diskussionsrunden fortzusetzen, und zum Teil zu sentimentalen Verabschiedungen führte. [60]

Die in den Fokusgruppen diskutierten Inhalte reichten von der Wahrnehmung der Partei(en) und der Spitzenkandidaten über eigene Wahlmotive, Überlegungen zum strategischen Wählen, Wahrnehmungen über Meinungen im sozialen Umfeld bis hin zur Beurteilung der TV-Duelle zwischen den Spitzenkandidaten. [61]

Technisch führten wir die Online-Fokusgruppen mit einer für diese Zwecke gemieteten Software namens "Quasimeto" (Anbieter: "Globalpark") durch. Im Großen und Ganzen gab es von technischer Seite her kaum Probleme, nur einmal musste aufgrund eines Internet-Provider-Ausfalls eine Fokusgruppe wiederholt werden. [62]

Folgende Vorteile der Online-Variante gegenüber herkömmlichen Fokusgruppen waren feststellbar:

Auf der anderen Seite gibt es einige wesentliche Einschränkungen für Online-Fokusgruppen, die entsprechend diskutiert werden (BLOOR & ANDERSEN, 2001, 81ff.), von denen hier aber nur einige angesprochen werden sollen. Offensichtlich ist, dass das Medium Computer systematisch gewisse Teile der Bevölkerung ausschließt. Die Methode setzt grundsätzlich Besitz oder Zugang zu einem Computer mit Internetanschluss voraus. Dazu kommen die Notwendigkeit von Computer-Literacy und eine ausreichend große Vertrautheit und Aneignung des Mediums, damit die Teilnehmenden während der Online-Kommunikation entsprechend "frei" interagieren können (und dies auch tun). In der Praxis der politischen Forschung und Beratung bedeutet dies, dass Online-Fokusgruppen nur für bestimmte AuftraggeberInnen (in Abhängigkeit von ihren Zielgruppen) zu empfehlen sind: Die eleganteste Methode nutzt nichts, wenn damit systematisch die Menschen nicht erreicht werden können, die im Zentrum des Forschungsinteresses stehen. Es ist heute schwer vorauszusagen, wie sich der Zugang größerer Teile der Bevölkerung zum Internet in den nächsten Jahren entwickeln wird. Experten wie BLOOR et al. geben sehr optimistische Prognosen ab, wenn sie meinen, dass der derzeit noch vorhandene Ausschluss eines Teils der Bevölkerung aus virtuellen Diskussionsforen schon bald der Vergangenheit angehören wird. [64]

In der Praxis haben wir zudem festgestellt, dass die Online-Fokusgruppen wesentlich weniger Material "produzierten" als Realgruppen. Wir führen diesen Effekt auf das Setting (Online-Kommunikation, ähnlich wie in einem Chat-Room) zurück – die Notwendigkeit des Schreibens unter einem gewissen Zeitdruck scheint einen starken Reduktionseffekt zu haben und die Ausdrucksweise zu verknappen. Zudem erwies sich die Online-Kommunikation als eigentümlich "flach" und sachbezogen, das heißt, sie kam über "Pros" und "Contras" kaum hinaus. Dementsprechend beschränkte sich die Auswertung in dem hier beschriebenen Fallbeispiel auf einen deskriptiven Top-Line-Report. Tiefer gehende Analysen, beispielsweise auf sprachlich-begrifflicher Ebene, oder die Untersuchung von Meinungsbildung in der Gruppe, schien uns mit dieser Art von Fokusgruppe nicht möglich. Allerdings war dies für diesen Einsatzbereich auch gar nicht notwendig. Viel wichtiger war ein schnell lieferbarer Überblick – und für diese Anforderungen war die Methode gut geeignet. Die Protokolle der Fokusgruppen, die abends von 20.00-22.00 Uhr stattfanden, wurden im Anschluss daran den AuftraggeberInnen per E-Mail übermittelt, die Top-Line-Reports folgten am nächsten Tag zu Mittag. [65]

Darüber hinaus lehrte uns die Praxis, dass bei den von uns durchgeführten Fokusgruppen kaum Meinungsbildungsprozesse beobachtbar waren. Dies mag einerseits an der im Unterschied zur persönlichen Kommunikation stattfindenden Gleichzeitigkeit von Äußerungen liegen, andererseits darauf zurückgeführt werden, dass nonverbale Äußerungen aus dem Online-Kommunikationsprozess ausgeschlossen sind. Auch die Literatur verweist auf diesen Nachteil von Online-Fokusgruppen (BLOOR et al., 2001, S.83). [66]

Da Online-Fokusgruppen unserer Erfahrung nach ein qualitativ anderes Datenmaterial hervorbringen als Realgruppen, muss man abhängig vom Erkenntnisziel abwägen, welche Methode zum Einsatz kommen soll. Online-Fokusgruppen können daher sowohl als Alternative als auch als Ergänzung zu Realgruppen eingesetzt werden – je nachdem, was ich unter welchen Umständen herausfinden möchte. Besteht das Erkenntnisinteresse darin, Meinungsbildungsprozesse zu beobachten und zu verstehen, erscheinen uns Realgruppen als sinnvollere Methode. [67]

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Online-Fokusgruppen insbesondere bei internetversierten Gruppen (etwa für Jugendliche) eine brauchbare Alternative oder Ergänzung zu Realgruppen darstellen, zumal die Kommunikation über E-Mail oder Chat-Rooms für manche Gruppen bereits Teil der Alltagskommunikation geworden ist. Dennoch sei darauf hingewiesen, dass Online-Kommunikation nicht den persönlichen Kontakt ersetzen kann und daher auch Online-Fokusgruppen nur einen Teil kommunikativer Prozesse abbilden können. [68]

3.5 Nachwahlanalyse

Nach dem Wahltag können Fokusgruppen eingesetzt werden, um in einer Nachwahlanalyse beispielsweise Erklärungsmuster für Wählerbewegungen oder Motive für Wahlentscheidungen zu untersuchen. Wiederum ermöglicht qualitative Forschung einen Blick "unter die Oberfläche" und über die von den ForscherInnen antizipierten Möglichkeiten hinaus: Während repräsentative Umfragen generelle Zustimmung oder Ablehnung erfassen, kann die qualitative Forschung Details erkennen, Zusammenhänge sichtbar machen und den Blick auf Aspekte lenken, die neu und überraschend sind, weil sie außerhalb von Vorstellung oder Erfahrungshorizont von AuftraggeberInnen und ForscherInnen liegen. Forschung mittels Fokusgruppen ermöglicht beispielsweise zu verstehen, warum eine bestimmte WählerInnengruppe sich für eine Partei statt für eine andere entschieden hat, und welche Gründe, Motive und Einflüsse dafür ausschlaggebend waren. [69]

3.5.1 Fallbeispiel 6: Motive für die Wahlentscheidung einer Zielgruppe

Nach der Nationalratswahl 2002 führten wir eine Nachwahlanalyse für eine der wahlwerbenden Parteien durch. Ein Teilbereich dieser Analyse beschäftigte sich speziell mit jungen, berufstätigen WählerInnen (bis 30 Jahre), die sich bei der Wahl für eine der Konkurrenzparteien entschieden hatten. [70]

Diese Zielgruppe war aus zwei Gründen für unsere Auftraggeberin von besonderem Interesse: Zum einen hatten statistische Analysen ergeben, dass gerade in diesem Segment eine starke Wanderungsbewegung von einer Partei zu einer anderen stattgefunden hatte. Zum zweiten konnte diese Bewegung nicht aus den quantitativen Daten und auch nicht mit Kontextwissen zufrieden stellend erklärt werden. Die Zielgruppe wurde von der auftraggebenden Partei als "zu ihrem Klientel" gehörig betrachtet, und es gab einen gewissen Vertretungsanspruch innerhalb der Partei. Dies führte zu der Frage, warum die Wahlentscheidung so und nicht anders ausgefallen war. Um diese Frage zu beantworten, führten wir nach der Wahl vier Fokusgruppen mit jungen, berufstätigen WählerInnen durch, die beim Screening ihre Präferenz für die politische Konkurrenz angegeben hatten. Die Fokusgruppen wurden nach den Kriterien Bildung (mit/ohne Matura) und Wohnregion (Stadt/Land) zusammengesetzt6), in allen Gruppen waren Frauen und Männer gleichermaßen vertreten. [71]

Die Fokusgruppen beschäftigten sich mit zwei grundlegenden Fragen: Zum einen mit den Erfahrungen der TeilnehmerInnen im Berufsleben, zum anderen mit den Motiven für ihre Wahlentscheidung bei der Nationalratswahl 2002 (sowie Detailfragen dazu, beispielsweise welche Stärken und Schwächen bei den Parteien und Spitzenkandidaten gesehen wurden, Vermutungen über Gründe über den großen Wahlerfolg der einen Partei im Verhältnis zu den anderen Parteien, eigene Anliegen als junger Mensch im Berufsleben etc.). Aus einer Kombination der Diskussionsbeiträge beider Themenblöcken sollte erforscht werden, mit welchen speziellen Herausforderungen und Situationen junge, berufstätige Menschen in urbanen und ruralen Regionen konfrontiert sind und welche Anforderungen und Erwartungen an Parteien daraus abgeleitet werden. [72]

4. Schlusswort

Wir haben versucht, in diesem Beitrag einen Überblick über die Funktionen und Einsatzmöglichkeiten von Fokusgruppen im Kontext der politischen Beratung zu geben, wie er sich aus unserer täglichen Praxis ergibt. [73]

Abbildung 1 (siehe Anhang) gibt einen Überblick über den zeitlichen Ablauf eines Forschungs- und Beratungsprozesses im Zuge einer Wahl, wie wir ihn in diesem Beitrag skizziert haben.



Abbildung 1: Phasen für Forschung und Beratung im Wahlkampf und Einsatzmöglichkeiten für Fokusgruppen [74]

Diese Abbildung dient zur Veranschaulichung, zu welchen Zeitpunkten wir mit dem Einsatz von Fokusgruppen bisher positive Erfahrungen gemacht haben. Jeder der hier vorgestellten Einsatzzeitpunkte kann natürlich auch losgelöst von allen anderen genutzt werden (da in der Realität selten alle Einsatzmöglichkeiten beauftragt werden). Darüber hinaus gibt es ohne Zweifel noch jede Menge anderer Einsatzmöglichkeiten und Gestaltungsvarianten, denen wir mit unseren bisher gemachten Erfahrungen auch keine Grenzen setzen wollen. Grundsätzlich sind unsere Überlegungen zu den Einsatzmöglichkeiten als Anregungen zu verstehen, die die Vielfalt und Breite der Verwendbarkeit von Fokusgruppen als Instrument der Meinungsforschung verdeutlichen sollen. Ähnlich verhält es sich mit den Auswertungsstrategien (induktive versus deduktive Auswertung, Mischverfahren), die hier andiskutiert wurden: Die Arbeit mit Fokusgruppen ist eine lebendige Methode, für die sich kein starres, einmal vorgedachtes und nach bestimmten Kriterien immer anwendbares Raster festlegen lässt. Bestimmend für die Auswahl des Forschungsdesigns und der Auswertungsstrategie sind

Diese Aspekte beeinflussen die Erhebungsmethode, die Analysestrategie und die Interpretationstiefe jedes Projektes. Als – grob verallgemeinernde – Faustregel kann jedoch gelten, dass induktives Vorgehen zwar zeitaufwendiger, dafür aber "offener" für Neuentdeckungen jenseits vorgefasster Denkmuster ist. Deduktive Auswertungsverfahren hingegen sind in der Regel zeitsparender und erlauben eher Vergleiche. So ermöglicht beispielsweise das Kategorienschema zu KandidatInnen-Eigenschaften einen Vergleich verschiedener KandidatInnen entlang der Dimensionen, oder auch die Beobachtung der Imageentwicklung einer Person im Zeitverlauf. In der Praxis wird häufig eine Kombination aus deduktiven und induktiven Auswertungsstrategien angewendet.



Abbildung 2: Auswertungsstrategien im Forschungs- und Beratungsprozess bei einer Wahl [76]

In einem eigens für diese Publikation durchgeführten institutsinternen Workshop war auch dieser Variantenreichtum der "Methode Fokusgruppe" Thema. Es wurde die Möglichkeit, Fokusgruppen im natürlichen Umfeld – z.B. im Dorfgasthaus – durchzuführen, ebenso angedacht, wie neue Wege zur Rekrutierung von TeilnehmerInnen, die sich in letzter Zeit immer schwieriger, zeitaufwändiger und somit kostenintensiver gestaltete. Ebenso wurde über das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichem Anspruch und beraterischer Praxis (bzw. umgekehrt) diskutiert. Ein Zukunftsszenario ist etwa die stärkere Einbeziehung von gruppendynamischen Prozessen in die Beobachtung, Dokumentation und Analyse von Fokusgruppen, um Meinungsbildungsprozesse besser nachvollziehen zu können. [77]

Die schlussendliche Erkenntnis, dass hier noch viel Entwicklungsarbeit geleistet werden kann und muss und dass dieser Entwicklungsprozess aufgrund seiner Rekursivität mit gesellschaftlichen Entwicklungen (Beispiel Internet) wahrscheinlich nie abgeschlossen sein wird, sehen wir als ForscherInnen und BeraterInnen nicht als Entmutigung, sondern als interessante und spannende Herausforderung, die uns in unserem beruflichen Alltag mit Sicherheit noch viel beschäftigten wird. [78]

Anmerkungen

1) BLOOR, FRANKLAND, THOMAS und ROBSON etwa weisen in ihrem Kapitel zu "Trends and Uses of Focus Groups" darauf hin, dass Fokusgruppen Daten zu folgenden Bereichen liefern können (BLOOR et al., 2001, S.4ff.)

2) Zu Vor- und Nachteilen verschiedener Formen von Gruppen siehe auch FLICK, 1996, S.133f. <zurück>

3) Indexing wurde von COFFEY und ATKINSON entwickelt (vgl. BLOOR et al., 2001, S.63ff.), die Valenzanalyse sowie die zusammenfassende und explizierende Inhaltsanalyse stammen von MAYRING (1988), die Kontingenzanalyse geht auf OSGOOD zurück (vgl. LAMNEK, 1995, S.195f.). <zurück>

4) Das ursprüngliche Schema wird je nach Projekt in adaptierter Form angewandt, dabei gleichzeitig reflektiert, in der Praxis überprüft und weiterentwickelt. Das hier vorgestellte Schema kam in dieser Form in genau diesem Projekt zur Anwendung, in anderen Projekten sind durchaus Abweichungen möglich. <zurück>

5) Ein Top-Line-Report ist eine Minimal-Auswertungs-Variante in Form einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Diskussion(en). Top-Line-Reports kommen bei uns vor allem dann zum Einsatz, wenn Ergebnisse schnell am Tisch liegen müssen oder wenn von der/m AuftraggeberIn nur eine Zusammenfassung oder ein erster Überblick vor einer späteren ausführlicheren Analyse gewünscht wird. <zurück>

6) Die Kriterien für die Zusammensetzung sind grundsätzlich theorie- bzw. datengeleitet (also z.B. Zielgruppen, die für die AuftraggeberInnen besonders wichtig sind). In diesem Fall wurde Rücksicht auf Bildungsunterschiede genommen, um ungewollte Dominanz- und Beeinflussungseffekte zu vermeiden. <zurück>

Literatur

Bloor, Michael; Frankland, Jane; Thomas, Michelle & Robson, Kate (2001). Focus Groups in Social Research. London: Sage.

Flick, Uwe (1996). Qualitative Sozialforschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften. Hamburg: Reinbek.

Kelle, Udo (1994). Empirisch begründete Theoriebildung. Zur Logik und Methodologie interpretativer Sozialforschung. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.

Klein, Markus & Ohr, Dieter (2000). Der Kandidat als Politiker, Mensch und Mann. Ein Instrument zur differenzierten Erfassung von Kandidatenorientierungen und seine Anwendung auf die Analyse des Wählerverhaltens bei der Bundestagswahl 1998. ZA-Information, 46, 6-25.

Lamnek, Siegfried (1995). Qualitative Sozialforschung Band 2. Methoden und Techniken. Weinheim: Beltz, Psychologie Verlags Union.

Littig, Beate & Wallace, Claire (1997). Möglichkeiten und Grenzen von Fokusgruppendiskussionen für die sozialwissenschaftliche Forschung. IHS, Reihe Soziologie Nr. 21, Wien.

Mayring, Philipp (1988). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.

Merton, Robert & Kendall, Patricia (1946). The focussed Interview. American Journal of Sociology, 51, 541-557.

Morgan, David L. & Scannell, Alice U.(1998). Planning Focus Groups. Focus Group Kit 2. Thousand Oaks/CA: Sage.

Popkin, Samuel L. (1991). The Reasoning Voter. Communication and Persuasion in Presidential Campaigns. Chicago: The University of Chicago Press.

Strauss, Anselm L. (1994). Grundlagen qualitativer Sozialforschung. München: Wilhelm Fink Verlag.

Witzel, Andreas (2000). Das problemzentrierte Interview [26 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 1(1), Art. 22. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00witzel-d.htm.

Zu den Autorinnen und zum Autor

Mag. Ursula BREITENFELDER; geboren 1967 in Salzburg. Studium der Germanistik und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Seit 1987 als freie Journalistin und Lektorin tätig, in der Sozialforschung seit 1993 als freie Mitarbeiterin des IFES (Institut für empirische Sozialforschung). Von 1995 bis 1996 Mitarbeit an einem Forschungsprojekt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Seit 1996 bei SORA tätig. 2002 bis 2004 Ausbildung im Bereich Organisationsentwicklung.

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Ursula Breitenfelder

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Mag. Christoph HOFINGER; geboren 1967 in Innsbruck. Studium der Germanistik, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Psychologie an der Universität Wien, Postgraduate in Soziologie am Institut für Höhere Studien (IHS). Seit 1989 unter anderem als freier Mitarbeiter des IFES (Institut für empirische Sozialforschung) in der sozialwissenschaftlichen Forschung tätig. Von 1994 bis 1996 Projektassistent am IHS. Seit 1996 Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter des Institute for Social Research and Analysis (SORA). Mitgründer von SYSIS (Multimedia-Computer-Simulationsmodelle). 1999 und 2000 Lehrauftrag für Wahlforschung am Institut für Politikwissenschaften an der Universität Innsbruck, seit 2002 Lehrauftrag am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

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Christoph Hofinger

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Mag. Isabella KAUPA; geboren 1970 in Wien. Studium der Soziologie und Psychologie an der Universität Wien. Weiterbildung in Gruppendynamik an der Universität Klagenfurt. Seit 1995 als Projektassistentin am Institut für Soziologie der Universität Wien tätig, 1996 bis 1999 Leiterin sozialwissenschaftlicher Projekte für das Arbeitsmarktservice (AMS). Ab 1997 als freie, ab 1998 als ständige Mitarbeiterin bei SORA tätig. Ausbildung zur Trainerin und Beraterin. Seit 2003 Lehrbeauftragte am Institut für Soziologie der Universität Wien.

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Mag. Ruth PICKER; geboren 1973 in Linz, Studium der Psychologie an der Universität Wien, Auslandsstudium an der New York University (NYU) mit den Schwerpunkten Sozialpsychologie, klinische Psychologie und cross-cultural psychology. 1998/99 Forschungsassistentin an der NYU/Department for Applied Psychology. Mitarbeit bei verschiedenen Forschungsprojekten (darunter Centre for the Study of Violence and Reconciliation/ Johannesburg). Seit 1994 freiberufliche Tätigkeit (Spiel- und Theaterpädagogik, Trainingstätigkeit, Moderation). Freie Mitarbeiterin der Agentur Steinbach/ Bildungsmanagement (http://www.agentursteinbach.at/).

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Zitation

Breitenfelder, Ursula; Hofinger, Christoph; Kaupa, Isabella & Picker, Ruth (2004). Fokusgruppen im politischen Forschungs- und Beratungsprozess [78 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 5(2), Art. 25, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0402254.

Revised 6/2008

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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