Volume 3, No. 3, Art. 10 – September 2002

Heimat und Fremde: Selbst-reflexive Auto-/Ethnografie

Christiane Kraft Alsop

Zusammenfassung: Das Erkunden des Unbekannten setzt das Verlassen des Bekannten voraus. Dieses Verlassen ist somit eine Grundvoraussetzung für das Transzendieren von Selbst und Gesellschaft, ob man nun die entfernte Kultur oder die Kultur in der Nachbarschaft untersucht. Das Verlassen ermöglicht jedoch auch ein anderes und tieferes Verständnis von dem, was man zurückgelassen hat. In dieser Abhandlung werde ich eine Verknüpfung der beiden zutiefst menschlichen Lebensweisen des Zuhause-Seins und des In-der-Fremde-Seins vornehmen, sowohl im buchstäblichen Sinn der Verknüpfung der eigenen und der fremden Kultur als auch im übertragenen Sinn der Verknüpfung von Ethnografien des Bekannten und des Unbekannten. Der Blick zurück in die Heimat erweist sich dabei als eine Möglichkeit, Selbst-Reflexivität zu praktizieren.

Ich werde wissenschaftliche Ansätze zur Erfahrung von Heimat und Fremde mit meinen persönlichen Erfahrungen verknüpfen, um Bedeutungs-Dimensionen aufzuzeigen. Mein Beitrag behandelt die folgenden Dimensionen: (a) Die Etymologie von Heimat und Fremde, (b) kulturpsychologische Aspekte, (c) Fernweh versus Heimweh sowie (d) zentrale auto-ethnografische Fragen und "Reisen in die Heimat"; diese Reisen illustrieren die Möglichkeiten, die die Auto-Ethnografie eröffnet. Auto-Ethnografie stellt demnach ein weiteres Puzzleteil dar im Bemühen, uns selbst und andere zu verstehen.

Keywords: Ethnografie, Auto-Ethnografie, Selbst-Reflexivität, Kultur-Psychologie, Heimat, Heimweh

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zur Etymologie von Heimat und Fremde

3. Zur Kulturpsychologie von Heimat und Fremde

4. Fernweh und Heimweh

5. Zentrale auto/-ethnografische Fragen und Reisen in die Heimat

6. Schlussfolgerungen

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Einleitung

Beim Praktizieren von Ethnografie verändert sich das eigene Verständnis von Zentrum und Peripherie bis hin zum Gewahrwerden der Komplexität multipler Zentren und multipler Peripherien. In diesem Beitrag werde ich einen Ansatz zur Verknüpfung von Zentrum und Peripherie vorstellen, indem ich Heimat und Fremde miteinander in Beziehung setze. Dabei berücksichtige ich verschiedene Aspekte meiner Identität als Dozentin und Mentorin, als Ethnografin und Autorin und als deutsche Emigrantin in den USA. Diese verschiedenen Stimmen sollen deutlich machen, dass das Zuhause-Sein und das In-der-Fremde-Sein zwei eminent menschliche Lebensweisen darstellen, die eng miteinander verbunden sind. Der Bezug auf Etymologie, Kultur-Psychologie, Psychoanalyse und Anthropologie soll den Blick für die Vielfältigkeit der Bedeutungsdimensionen dieser beiden Formen menschlichen Daseins eröffnen. [1]

Anthropologen konzipierten in der Folge des Kolonialismus den Begriff der Selbst-Reflexivität, um Grenzen und Potenziale der Ethnografie besser zu verstehen. Die Auto-Ethnografie, die Konzept und Methode zugleich ist, stellt nun den Versuch dar, diese Selbst-Reflexivität zu praktizieren, indem das eigene Hab und Gut – das Vertraute – aus der Distanz in Augenschein genommen wird, was die eigene Perspektive erheblich verändern kann. Diese Veränderung tritt dann ein, wenn die Auto-Ethnografin1) ihr Selbst in ihrem sozialen Kontext verortet und dabei das Persönliche mit dem Kulturellen verbindet (REED-DANAHAY 1997, S.9; ELLIS & BOCHNER 2000, S.739). Im letzten Teil dieses Artikels werde ich mich folglich nicht – in traditioneller ethnografischer Manier – auf den "Anderen" konzentrieren, sondern auf das Vertraute aus der Perspektive derjenigen, die in das Leben der "Anderen" eingetaucht ist. Schließlich folgt – illustriert anhand zweier Beispiele – eine Charakterisierung von Auto-Ethnografie als einem artistischen Balanceakt an Grenzmarkierungen entlang, die von dialektischen Verknüpfungen und paradoxen Verzweigungen gekennzeichnet sind. [2]

2. Zur Etymologie von Heimat und Fremde

Eine Möglichkeit, den Umfang von Wortbedeutungen zu verstehen, besteht darin, die Wortursprünge selbst, ihre Etymologie, zu untersuchen. Da Deutsch meine Muttersprache ist, entschloss ich mich, den deutschen Wortursprüngen von Heimat und Fremde nachzugehen, da die Facetten ihrer emotionalen Bedeutungen mir vertrauter sind als die englischen (s. BRAUN et al. 1993; KLUGE 1995). [3]

Die deutsche Sprache hat zwei Begriffe für das englische "home": Heim und Heimat. Die Wurzeln beider Begriffe finden sich im Alt- und Mittelhochdeutschen, im Altenglischen, -Nordischen, Irischen und Russischen. Diese Wurzeln beschreiben einen Bedeutungsumfang, der Haus und Hof ebenso wie das eigene Dorf, die Quelle des materiellen Einkommens ebenso wie die Anbaufläche, als auch die gesamte soziale Umwelt aus Familie und Bezugspersonen umfasst. Das Wort Heimat hat seinen Ursprung im indogermanischen Wort für Wohnen, weist allerdings überraschenderweise auch in Richtung auf Einöde, Armut, Kleinod und Zierrat. An den Polen des Begriffes Heimat liegt folglich zum einen die eher schaurige Aussicht auf eine Wüste von Armut, von Vertrautem, von ewig Gleichem, zum anderen ein Verständnis von Heimat als Juwel des Besonderen, des Teuren und Liebgewonnenen. [4]

Auf der Suche nach dem Ursprung des Antonyms Fremde findet sich eine weitere Überraschung. Das deutsche Adjektiv fremd wird heute als "von auswärts stammend, nicht heimisch, nicht zugehörig, unbekannt" (BRAUN et al. 1993, S.373) benutzt. Darüber hinaus umfasst das Adjektiv in seinen Ursprüngen auch Bedeutungen in Richtung tapfer, tüchtig und stark. Die Person, die aus der Fremde kommt oder in die Fremde geht, ebenso wie der Gegenstand, der aus der Fremde stammt, verweisen also auf Tapferkeit, Stärke und Kompetenz. Überraschend dagegen ist, dass feindliche Reaktionen auf Fremdes nicht in den Wortursprüngen zu finden sind. [5]

3. Zur Kulturpsychologie von Heimat und Fremde

In seiner Skizze zur Psychologie des Heimwehs betrachtet Ernst E. BOESCH (1991) die Kindheit als Fundament von Heimat. Denn gerade in der Kindheit ist am ersichtlichsten, wie sehr Heimat und Fremde miteinander verknüpft sind. Dasjenige Kind, das nach jedem neuen Schritt hinaus zum sicheren Hafen zurückkehren kann, kann das Unbekannte erkunden. Babys, die auf dem Fußboden im Wohnzimmer herumkrabbeln, drehen sich häufig nach der betreuenden Person um; sie wollen sichergehen, dass diese noch im Blickfeld ist, um dann hinter das Sofa, den Lehnstuhl oder sogar aus dem Raum hinauszukrabbeln. Das verängstigte Kind dagegen klammert sich an die Betreuerin oder den Betreuer und bleibt beim Vertrauten, unfähig, die eigene Entwicklung selbst voranzutreiben (BOESCH 1991; vgl. AINSWORTH 1979). [6]

Was Heimat so besonders macht, ist die Tatsache, dass sie die primäre Erfahrung ermöglicht. Wir erkunden zum ersten Mal. Und Heimat ist darum so besonders, weil diese Erkundungsprozesse simultan stattfinden: wir explorieren unsere physische Umwelt, unser Selbst und unsere Identifikationen. Im späteren Leben sind Explorationen nie wieder sowohl simultan als auch primär. [7]

Heimat bildet so die ursprüngliche "Transparenz" (BOESCH 1991, S.22), die Orientierung und Kommunikation in der Muttersprache ermöglicht. Diese Transparenz ist in zweierlei Hinsicht zentral. Erstens erlaubt sie uns zu antizipieren. Wenn wir andere wahrnehmen, können wir ihre Gesichter, ihre Gesten, ihre Stimmlage auf eine Weise "lesen", die es uns erlaubt, in die Zukunft zu projizieren, weil wir auf eine lange Geschichte von Erfahrungen aufbauen können. [8]

Als Immigrantin in den USA wurde ich mir dieser Tatsache in Augenblicken der Krise besonders schmerzlich bewusst. Die Tonlage, die Mimik der Sprecher, die emotionale Bedeutung und die historischen Wurzeln, die Worte einer anderen Sprache signalisieren, sind den Nicht-Einheimischen gar nicht oder kaum oder nur teilweise zugänglich. Während ich die Nachrichten des 11. September verfolgte, realisierte ich, wie sehr ich die Vertrautheit von deutschem Radio und Fernsehn vermisste. Nicht etwa, dass diese den goldenen Weg zur Weisheit ermöglichen, aber ihre Vertrautheit vermittelt mir ein Gefühl grundlegender Orientierung im Augenblick totaler Verwirrung. Kurz nach den Terroranschlägen hielt ich einen Vortrag über eben dieses Thema von Heimat und Fremde. Anschließend sprach mich eine Frau Ende Fünfzig an. Sie hatte ihre kanadische Heimat 35 Jahre zuvor verlassen. Sie erklärte, sie habe niemals den Drang verspürt zurückzukehren, aber beim allerersten Gewahrwerden der Anschläge spürte sie ein unmittelbares Verlangen, wieder in ihrem Heimatdorf zu sein. [9]

Zweitens nutzen wir von Kindesbeinen an die ursprüngliche Transparenz, die Heimat uns ermöglicht, indem wir mithilfe der Geschichten, Märchen und Filme, mit denen wir aufwachsen, fiktionale Welten von einer besseren Heimat kreieren. [10]

Heimat bietet somit Sicherheit an, indem sie uns die Entwicklung eines inneren Kompasses ermöglicht (AMERY 1980, RAUSCHENBACH 2001), auf den wir uns unbewusst in jeder Sekunde unseres Lebens verlassen – unbewusst so lange wir zu Hause sind. Heimat wird erst signifikant, wenn wir sie verlassen (BOESCH 1991, AMERY 1980, RAUSCHENBACH 2001). Folglich verknüpft Heimat auf dialektische Weise Vergangenheit und Zukunft (BOESCH 1991, S.26); Zuhause-Sein verweist dialektisch auf das In-der-Fremde-Sein. [11]

Ernst E. BOESCH führt seine Gedanken zum Heimweh fort, indem er erklärt, dass das Fremde im Vergleich zur Heimat eine bloße Projektionsfläche bildet, da es die Transparenz vermissen lässt, die der Heimat zu Eigen ist. Das Fremde ist amorph und unstrukturiert. Es erlaubt keine Antizipation, weil wir es nicht "lesen" können, nicht interpretieren können, was möglich und unmöglich, anziehend und abstoßend ist. Uns fehlt die Geschichte persönlicher und kultureller Erfahrungen. Indem wir in eine andere Kultur eintauchen, können wir unser Selbst und unsere Identifikationen erweitern, gerade so wie ein Kind seine neue Umwelt erkundet. Diese Entdeckung der unbekannten Umgebung und der unbekannten Teile unseres Selbst erzeugt Gefühle der Potenz, weil wir unsere Potenziale erweitern und unser Selbst neu entwerfen. All dies ist möglich, weil wir – der Heimat fern – als Außenseiter abgestempelt werden. Außenseiter können exzentrisch sein. Sie sollen sogar exzentrisch sein. Einheimische können die Außenseiter so entweder romantisch überhöhen oder durch Fremdenhass abspalten.2) [12]

Ich erinnere mich an meinen ersten Strandbesuch auf West Beach, in der Stadt, wo ich wohne. Ich zog mich um, indem ich mir lose ein Handtuch um den Körper wickelte. Eine Frau am Strand sprach mich an: Sie kommen bestimmt aus Europa, sagte sie. Keiner an diesem Strand würde es wagen, sich auf diese Weise umzuziehen. Diese und andere Ratgeber in kulturell korrektem Verhalten amüsierten meine Handlungsweisen, die ich in diesen und anderen Situationen zeigte. Ich selbst machte mir nichts aus solchen "Fehlern". Denn wie hätte ich schon wissen sollen, wie es läuft? Ich hatte Narrenfreiheit. [13]

Auf die euphorische Phase folgen Frustrationen. Gerda LERNER (1997), eine Emigrantin aus Nazi-Österreich, beschreibt:

"Living in translation and lacking both an adequate vocabulary and the sense for the rhythm of the language, it was as though my adult knowledge had to be transposed into the vocabulary of a six-year-old [...] (S.35).To come [...] to the imbecile stammerings of an immigrant American was a fall [...] (S.38)".

Und dies ist nur eine von vielen Arten des "Versagens" in der Fremde.3) [14]

In meiner Kindheit führten Mädchen in Deutschland, meist so etwa in der dritten Grundschulklasse, ein Poesiealbum. Sie baten eine Freundin, ihr liebstes Gedicht, ein Zitat oder ihre liebste Volksweisheit auf eine der Albumseiten einzutragen. In meinem eigenen fand ich den folgenden Spruch und erinnere mich, dass er einer der populärsten war (vgl. RAUSCHENBACH 2001, S.230):

Vergesse nie die Heimat, wo deine Wiege stand,

Du findest in der Ferne kein zweites Heimatland. [15]

Diese Weisheit bedroht diejenige, die es wagt zu gehen, ihr Kompass könnte fern der Heimat versagen. Die Weisheit deutet jedoch auch auf etwas, was allen Kulturen gemein ist: sie teilt die Welt in ein Hier und Dort, Wir und Ihr, in Zivilisierte und Wilde ein. [16]

Gerade so, wie es eine Dialektik von Heimat versus Ferne gibt, so gibt es eine Dialektik von Nationalismus versus Fremde. Zu den Konnotationen des Begriffes Nation gehört die verkörperte Zugehörigkeit zu einem Ort und seinen Menschen, zu einem Erbe, zu einer Gemeinschaft. Nationen liefern einen "quasi religiösen Text", der sich nicht nur auf die historischen und geografischen Grenzmarkierungen bezieht, sondern auch auf ihre offiziellen Feinde und Helden (SAID 2000, S.176f.). So verweist Nationalismus wiederum dialektisch auf Imperialismus. Seitdem Menschen Geschichte schreiben, kann man das Bemühen verzeichnen, dem Vertrauten das Fremde einzuverleiben und zwar auf allen Ebenen des Seins. Es wird sich zeigen müssen, was die Zukunft bringt, sowohl für das Konzept Nation als auch das der Heimat. Tommy DAHLEN (2000) wagt einige Gedanken zur Substitution von Nationen durch corporate identities. Jean AMERY (1980) sagt eine Zukunft mit geschichtslosen Objekten vorher und nimmt damit den Ersatz des individuellen Kalenders durch den universellen palm pilot vorweg. Und Brigitte RAUSCHENBACH (2001, S.245f.) führt aus, dass Grenzen sich heutzutage denjenigen Einwohnern öffnen, die verreisen und zurückkommen wollen; den Eindringlingen aber, denen die bleiben wollen, bleiben sie versperrt. Heimat, so sagt sie vorher, wird durch "Nicht-Orte" ersetzt werden. [17]

Zwischen dem Hier und Dort, dem Wir und Denen, tut sich für den Außenseiter die Schlucht des Nicht-Dazugehörens auf. Es gibt mannigfache Weisen, auf diese Nicht-Zugehörigkeit zu reagieren. Wir mögen auf individueller Ebene versuchen, dies zu bewältigen, indem wir feindliche Gefühle denen gegenüber hegen, die in der Heimat bleiben. Der Anthropologe Edward SAID (2000, S.181) weist auf eine andere Coping-Strategie hin. Immigranten, so beobachtet er, kreieren oft ihre eigene, regierbare Welt. Sie werden Roman-Schriftsteller, Schachspieler oder politische Aktivisten. Auf gesellschaftlicher Ebene kann man häufig beobachten, dass die erste Generation von Immigranten ein Stück Heimat imitiert, indem sie vertraute Geschäfte, Restaurants, Häuser und Organisationen nachbildet. "In New York City's Washington Heights they created a small Mittel-Europa of familiar shops, coffee houses and organizations. Their cynical stance towards the USA gave them a sense of continuity" (LERNER 1997, S.39). [18]

Doch das Verlassen meiner Heimat verwandelt mich nicht nur in eine Außenseiterin der neuen Kultur. Mein Verlassen stört die Ordnung der Aufspaltung in ein Hier und Dort. Diejenigen, die zu Hause bleiben, identifizieren mich als Teil ihres "Wir", während ich sie mit meiner Präferenz für "die Anderen" vor den Kopf stoße. Die Zurückgebliebenen reagieren mit unterdrückter Unzufriedenheit und Neid, beides entspringt dem bewussten oder vorbewussten Wissen, dass Heimat nicht vollkommen ist, dass sie einschränkend oder gar existenziell bedrohlich sein kann (BOESCH 1991, S.30). Warum? Ich glaube, jeder Mensch spürt die Diskrepanz zwischen der faktischen und der fiktionalen Heimat, zwischen der Wüste des Vertrauten und den Verheißungen des "gelobten Landes". Indem ich gehe, zeige ich für all diejenigen, die bleiben, mit dem Finger auf eben diese Diskrepanz. Auto-/biografische Betrachtungen von Immigranten, Flüchtlingen und Ausgebürgerten bezeugen vielfach die Schwierigkeiten der Zurückgebliebenen (siehe z.B. FISCHER 1998; FREMONT 1999; REICH-RANICKI 2000). Andererseits sind Kulturen erfindungsreich in ihren Weisen, mit dieser Unzufriedenheit und diesem Neid zurecht zu kommen (BOESCH 1991, S.30). Sie kreieren Abschiedsrituale wie etwa Geschenke und die Zurückgebliebenen versprechen, häufig brieflich oder telefonisch in Kontakt zu bleiben.4) [19]

4. Fernweh und Heimweh

Die Dialektik von Heimat und Fremde, von Nationalismus und Imperialismus, von Insider und Outsider wird noch einmal deutlicher, schaut man sich die Gefühle an, die entstehen, wenn Heimat zu nah rückt und wenn Heimat zu weit fort ist. Fernweh und Heimweh, obgleich ihre Gefühlsbewegungen in entgegengesetzte Richtung weisen, teilen das gleiche Stammwort Weh. [20]

Weh meint einen Ausruf von Schmerz, Angst oder Überraschung an dessen Wurzel Wut, Ärger oder auch Trauer liegen (BRAUN et al. 1993, S.1545; KLUGE 1995, S.879). Und während Heimweh sich leicht in homesickness übersetzten lässt, bin ich ratlos, wenn es um das deutsche Fernweh geht. Das englische wanderlust drückt das Verlangen nach Fortgehen aus, aber es betont zu sehr des Vagabunden oder Touristen Wunsch nach einer Woche Abenteuer hier und einer dort. Die deutsche Bedeutung dagegen bezieht sich auf den immer näher rückenden Horizont, bis zu dem Punkt, an dem uns Heimat beinah erstickt und wir fortgehen. Folglich begegnen wir der neuen Umgebung mit Enthusiasmus, erfahren die Erweiterung unseres Horizonts als bestärkend, und explorieren Aspekte unserer Identität, die zu Hause begraben lagen. Wir verlieben uns auf den ersten Blick. Nach einer Weile, festgefahren im fremden Land, verwandelt sich die Wüste, die wir hinter uns gelassen haben, in unserer Erinnerung in ein Juwel, in die Schatztruhe des Vertrauten, in den Kompass unserer Gefühle, unseres Denkens und Handelns. Heimweh überkommt uns, der Ausruf des Schmerzes für das, was wir zu Hause gelassen haben. [21]

Wie konnte das passieren? Wie konnte unsere Euphorie sich so rasch in Elend verwandeln? [22]

Im Folgenden werde ich ein Stück weit den Weg beschreiten, den Brigitte RAUSCHENBACH in ihrer Erkundung des Heimwehs auftat (2001), da er zum zentralen Paradox führt, das Fragen zum auto-ethnografischen Ansatz aufwerfen wird. [23]

RAUSCHENBACH (2001) erklärt die Bedeutung von Heimweh, indem sie sich auf FREUDs Verständnis zweier Phänomene bezieht, Trauer und Melancholie. Der Verlust einer signifikanten Beziehung, sei es zu einer Person oder zu einer Abstraktion wie Heimat, bedeutet, dass alle investierte Energie nun heimatlos geworden ist, eine Quelle von Schmerz für die trauernde Person, gefolgt von einem intensiven Verlangen, die Beziehung fortzusetzen, zu verlängern, wenn auch nur in die Fantasie hinein. Ein gewaltiger Verlust von Interesse in die Welt und in andere Personen ist die Folge.

"Reality-testing has shown that the loved object no longer exists, and it proceeds to demand that all libido shall be withdrawn from its attachments to that object. This demand arouses understandable opposition – it is a matter of general observation that people never willingly abandon a libidinal position, not even, indeed when a substitute is already beckoning to them. This opposition, can be so intense that turning away from reality takes place and a clinging to the object through [hallucinating it]. Normally, respect for reality gains the day. Nevertheless its orders cannot be obeyed at once. They are carried out bit by bit at great expense of time and psychic energy, and it the meantime the existence of the lost object is psychologically prolonged. [...] When the work of mourning is completed the ego becomes free and uninhibited again." (FREUD 1917, S.237)5) [24]

Während die trauernde Person eine verarmte und leere Welt erlebt, erfährt die Melancholikerin ein verarmtes und leeres "Ich", ohne zu wissen, was sie traurig macht. Darum kann sie nicht trauern, denn der Verlust ist von schweren Enttäuschungen begleitet, die auf Ärger oder gar Hass beruhen können. Die Melancholikerin klammert sich an Teile ihrer frühen Kindheitsidentifikationen, die sie heimlich beschuldigt. Melancholie wird so zu selbst-destruktivem Hass, der eigentlich einem anderen oder etwas anderem gilt. [25]

RAUSCHENBACH (2001, S.237) folgert, dass Heimweh eine Mischung aus FREUDs Verständnis von Trauer und Melancholie darstellt. Die Wurzeln des Heimwehs liegen in einer Anklage gegen die Heimat: Die Lebensbedingungen sind untragbar, sei es im materiellen, sozialen oder ideologischen Sinne. Folglich bin ich gezwungen, nach einer Zukunft in der Fremde zu suchen. Dort allerdings bin ich auf einen inneren Kompass angewiesen, den ich in der Heimat erwarb. Heimweh ersetzt somit die ursprüngliche Bedeutung von Heimat mit einem nostalgischen Sehnen. Dieses Sehnen verdeckt das Versagen meiner Heimat, mir die Unterstützung und Sicherheit zu geben, die ich brauche, um eine unbekannte Umgebung zu erkunden und darin Stabilität zu finden (AMERY 1980). [26]

Als ich Deutschland verließ, war ich frustriert. Dieses Deutschland erschien mir engstirnig und unflexibel. Sie weigern sich noch immer, das Internet zu benutzen, dachte ich, klammern sich an einen Arbeitsmarkt von Berufen, der vor einem Jahrhundert erfunden wurde, und bleiben fromm ihrem Glauben an Autorität und Hierarchie treu. Aus der Distanz dagegen zeigte dieses Deutschland ein anderes Gesicht. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Risse überspielte. Ich rühmte den deutschen Skeptizismus gegenüber jeder neuen technologischen Erfindung, rühmte das Recycling jeder Flasche, jeder Dose, jedes Schnitzel Papiers. Im Rückblick erschienen solche deutschen Weisen glanzvoll. [27]

Im Zentrum von Heimweh liegt ein Paradoxon (RAUSCHENBACH 2001, S.237f.): Heimweh ist die nostalgische Sehnsucht nach einer Heimat, die gerade das Glück symbolisiert, dass diese Heimat nicht bereitstellen konnte. Unterschwellige Ängste und Wut werden offensichtlich, wenn die mit Heimweh gepeinigte Person die Kultur des Gastlandes für ihr vielfaches Scheitern beschuldigt, die Sicherheit zu ermöglichen, die der innere Kompass zu Hause erlaubt. [28]

Wenn mein innerer Kompass hier in den Vereinigten Staaten nicht funktionierte und mich dadurch Ängste und Konfusionen erfassten, verurteilte ich mit aller Schärfe, was – so glaubte ich – an "den Anderen" falsch war. Ich schimpfte: Diese Amerikaner sind verblödet. Die können nicht mal über ihren eigenen Tellerrand hinwegkucken. Und was wirkliche Freundschaft bedeutet, davon haben sie auch keine Ahnung. [29]

Ich glaube, dass Paradoxien die fruchtbarsten Denkbewegungen sind. Das Paradox des Heimwehs führt mich zu den relevanten Kernfragen für all diejenigen, die Grenzen überschreiten, für all diejenigen, die Ethnografie betreiben:

Ich werde versuchen, einen kurzen Einblick in meine Enttäuschungen zu geben, die mir erst im Nachhinein bewusst wurden. [31]

Erstens waren da meine Enttäuschungen mit meinem beruflichen Werdegang. Das deutsche akademische System verlangt, dass man nach der Beendigung der Doktorarbeit eine weitere Arbeit, Habilitation genannt, anfertigt, die wiederum fünf bis sieben Jahre in Anspruch nimmt. Deutschland ist eines der wenigen Länder auf der Welt, das sich an dieses Ergebenheits- und Kontrollritual klammert. Diese Aussicht veranlasste mich, nicht nur das deutsche akademische System, sondern die Sozialwissenschaften im Allgemeinen für mein Gefühl verantwortlich zu machen, mich beruflich in einer Sackgasse zu befinden. In den Vereinigten Staaten erschien der Horizont weit offen. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten würde mein sein. Ich würde mich neu erfinden. Als sich jedoch meine Euphorie an meinem ach so erweiterten Horizont verflüchtigt hatte, nachdem ich mit der Idee gespielt hatte, diverse andere Laufbahnen einzuschlagen, realisierte ich, dass es das akademische System war, das ich in Deutschland so gehasst hatte, nicht jedoch die Sozialwissenschaften selbst. Die Sozialwissenschaften waren längst so sehr Teil meiner Identität geworden, dass ich mich entschloss, sie auf eine Weise zu praktizieren, die ich für sinnvoll hielt. [32]

Zweitens waren da diese stumpfen, amorphen und undefinierbaren Gefühle von Scham und Schuld in mir als einer Tochter der Generation des Zweiten Weltkriegs gegenüber meinem Land. Ich wollte diese zurücklassen, zu Hause, in den Kellern und auf den Dachböden der Freunde, die mir den Abstellraum für all die Dinge zur Verfügung stellten, die ich nicht sogleich in die USA mitnehmen wollte. Aber statt diesen stumpfen, amorphen und undefinierbaren Gefühlen erfolgreich entfliehen zu können, begegnete ich ihnen in lebendiger, greifbarer und deutlich wahrnehmbarer Form hier in den Vereinigten Staaten. Ich sah die Nationalflaggen, die Amerikaner stolz über ihrer Haustür präsentieren – das hatte ich in Deutschland nur bei Rechtsradikalen oder Neonazis beobachten können (s. PROUD GERMAN? 2001). Ich sah den noch immer heftigen Schmerz in den Augen meiner Schwiegermutter, angesichts des Verlustes ihres Bruders, der im Bomberflieger über Nord-Afrika von Deutschen abgeschossen worden war. Und ich staunte angesichts der Tatsache, dass mein Schwager stolz die militärischen Medaillen seines Vaters im Flur seines Hauses ausstellte. Mein verstorbener Schwiegervater hatte für die Sieger gekämpft. [33]

Plötzlich tauchten Geschichten in mir auf, zu denen ich zu Hause keinen Zugang gehabt hatte.6) Ich werde weiter unten ein Beispiel für eine solche Geschichte geben. Hier will ich es in den Worten ausdrücken, die eine meiner Studentinnen wählte: "Ich wurde Japanerin", sagte sie, "nachdem ich mein Land verließ und in die USA umzog." [34]

Was ich mit diesen Beispielen gern vermitteln würde ist: egal wie drängend mein Fernweh, ich bringe Heimat im Gepäck mit. Egal wie weit ich mich fortwage, mein innerer Kompass reist mit mir und ich erfahre dessen konstante Veränderung. Jede, die geht, ist diesem Prozess ausgesetzt. Ethnografinnen, die sich auf das Erkunden und Aufeinander-Beziehen anderer Kulturen einlassen, können diese Prozesse systematisch nutzen. [35]

5. Zentrale auto/-ethnografische Fragen und Reisen in die Heimat

In meinem ersten Beispiel dafür, wie Ethnografinnen diese Prozesse für sich nutzen können, bilde ich eine Analogie zur Ausbildung in der Psychotherapie. Soweit ich weiß, verlangen alle anerkannten und wissenschaftlich respektierten Psychotherapie-Methoden, dass die Therapeutin jeden Winkel ihrer eigenen Psyche erkundet, indem sie sich selbst einer Therapie unterzieht (THE BOSTON PSYCHOANALYTIC SOCIETY AND INSTITUTE, BULLETIN o.J., S.12). Die Annahme ist, dass die Therapeutin ihre eigenen geheimen Wünsche und Fantasien, ihre Ängste und ihre Wut, ihre Freuden und Genüsse erkundet, um ihre Klienten in deren (Selbst-) Erkundung unterstützen zu können. Denn wie kann sie ihren Klienten dabei helfen, Frieden mit sich zu schließen, mit ihren Stärken und Schwächen, wenn sie selbst ihre eigenen nicht unter die Lupe nimmt? In diesem Fall erscheint es selbstverständlich, dass Therapeutinnen Selbst-Reflexivität praktizieren. Überträgt man diese Selbst-Reflexivität auf die Ebene der Kultur, so wird offensichtlich, dass wir, die wir andere Kulturen untersuchen, unsere Heimat explorieren sollten, die Wünsche und Fantasien, die sie in uns hervorruft, die Freuden und Genüsse des täglichen Lebens, die Kluft zwischen unserer faktischen und unserer fiktionalen Heimat. [36]

Ein weiterer Grund, Selbst-Reflexivität zu betreiben, wird im Blick auf die Geschichte der Anthropologie offenbar. Anthropologie begann als ein koloniales Unternehmen. Wir Euro-Amerikanerinnen untersuchten andere Völker, um ihren Platz in der Hierarchie unseres Wertesystems zu bestimmen. Es gibt reichlich Belege dafür, dass wir Kolonialisten in die Fremde gingen, ohne darüber zu reflektieren, was wir zurückließen; wir vermaßen das Unbekannte mit unserem eigenen inneren Kompass. Und wenn dieser innere Kompass nicht funktionierte, dann waren "die Anderen" Schuld, nicht wir. Als die australischen Aborigine den "kultur-freien" Intelligenztest der Psychologen nicht bestanden, glaubten wir zu wissen, dass diese eben nicht so klug sind wie wir (COLE 1996, S.52ff.). Und als wir herausfanden, dass die Ilongots auf den Philippinen an ihrem Ritual des Kopfjagens festhalten, wenn einer ihrer Lieben stirbt, meinten wir den Beweis für ihren primitiven Status zu haben (ROSALDO 1989/1993, S.65). Es bedurfte der Gräueltaten und Massenmigrationen zweier Weltkriege, um es uns zu erschweren, einfach "die Anderen" zu beschuldigen. Wir mussten nach innen schauen. Es bedurfte darüber hinaus der kritischen Stimmen von Feministinnen, die Machthierarchien in unserem eigenen Zuhause aufzudecken, die Missbrauch, Entfremdung und Ausbeutung zwischen und innerhalb der Geschlechter verursach(t)en (s. BEHAR & GORDON 1995; NASH 1997; WOLF 1992). Und es ertönten die Stimmen derjenigen, die wir bewerteten. Plötzlich traten sie uns als Expertinnen ihrer eigenen Heimatkulturen gegenüber, Kulturen, die wir in unserem Hierarchiesystem ganz unten angesiedelt hatten (BEHAR 1996; SMITH 1999). [37]

All dies und mehr bewirkte eine schwere Krise in der Anthropologie und in den Sozialwissenschaften im Allgemeinen. Einer der Wege aus dieser Krise führte zum Bemühen um Selbst-Reflexivität. Diese Selbst-Reflexivität kann verschiedene Formen und Umrisse annehmen, wir können uns beispielsweise nach unserer Geisteshaltung fragen, nach unserer Machtposition im Netzwerk der Kulturen, nach den Weisen, in denen wir Wissen produzieren, und nach unserem Verständnis von Zentrum und Peripherie (ALSOP 2001; BEHAR 1996; BOURDIEU 1998, 1990; STAEUBLE 1992, 1996). Eine mögliche Weise, Selbst-Reflexivität zu betreiben, ist die Auto-Ethnografie, ein relativ neues Konzept und eine neue Methode. [38]

Auto-Ethnografie

"is an autobiographical genre of writing and research that displays multiple layers of consciousness, connecting the personal to the cultural. Back and forth autoethnographers gaze, first through an ethnographic wide-angle lens, focusing outward on social and cultural aspects of their personal experience, then, they look inward, exposing a vulnerable self that is moved by and may move through, refract and resist cultural interpretations (...). As they zoom backward and forward, inward and outward, distinctions between the personal and cultural become blurred, sometimes beyond distinct recognition." (ELLIS & BOCHNER 2000, S.739) [39]

Aber anstatt dieses Genre weiterhin im Abstrakten zu definieren, werde ich zwei Beispiele für auto-ethnografische Arbeiten aufführen.7) [40]

Was wir entdecken können, wenn wir in die Heimat zurück reisen, zeigt das Beispiel der Arbeit der Literaturkritikerin Svetlana BOYM (1996, S.264f.). In den achtziger Jahren verließ sie ihr Heimatland Russland als politische Emigrantin und kehrte zehn Jahre später zurück, um die Heimat, die sie verlassen hatte, besser zu verstehen. In ihrem Artikel Unsettling Homecoming beschreibt sie ein Ereignis, das sich zutrug, als sie noch ein Kind war und ihre Eltern zum ersten Mal Gäste aus dem Ausland bewirteten. Die Familie lebte in einer sogenannten kommunalen Wohnung. Ihre Nachbarn, die sie Tante Vera und Onkel Fedia nannte, waren zu Hause. [41]

"Onkel Fedia", so erinnert sie sich, "kam meist betrunken nach Hause, und wenn Tante Vera sich weigerte, ihn hereinzulassen, krachte er mitten im langen Flur zusammen", den Eingang zur Wohnung ihrer Familie blockierend. An diesem Abend

"waren wir alle im Wohnzimmer und hörten Musik, um den kommunalen Lärm zu übertönen; meine Mutter erzählte unserem ausländischen Gast von den Schönheiten Leningrads. ... Während die Konversation so vor sich hinfloss und der Gast aus dem Ausland die Reichtümer des Russischen Museums kommentierte, bahnte sich ein kleiner gelber Strom langsam seinen Weg durch die Tür zu unserem Wohnzimmer. Riechend, peinlich und aufdringlich bildete er genau vor unserem Esstisch einen kleinen See. Diese Szene der prekären Gemütlichkeit einer Familienzusammenkunft, intim und öffentlich zugleich, mit einer Mischung von Behaglichkeit und Furcht in Anwesenheit des Ausländers und des Nachbarn, blieb in meinem Kopf als eine Erinnerung meiner Heimat haften." (a.a.O., S.264; Übersetz. C.K.A.) [42]

Sie fährt dann fort, mit dieser Erinnerung zu arbeiten, indem sie sie in eine Metapher überführt. Diese Metapher erfasst ein Muster des unbewussten inneren Kompasses der sowjetischen Kultur. "Sollte ein sowjetisches kulturelles Unbewusstes jemals existiert haben, so muss es wie eine kommunale Wohnung strukturiert gewesen sein – mit dünnen Wänden zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Kontrolle und Intoxikation" (a.a.O., S.265; Übersetz. C.K.A.). Dieses Beispiel zeigt, warum es hilfreich ist, einen Blick zurück in die Heimat zu werfen; indem Erinnerungen sich in kulturellen Metaphern kristallisieren, lässt sich diese Heimat besser verstehen. [43]

In meinem zweiten Beispiel zitiere ich einen Teil einer Geschichte, die ich für das Buch schrieb, an dem ich gerade arbeite. Dieses Buch handelt von der Beziehung zwischen der deutschen Generation des Zweiten Weltkriegs und ihren Erbinnen, und in diesem Fall der Beziehung zwischen meinem Vater und mir.

"Wieder ist Mutter fort. Sie singt im Chor. Es ist ein Wintertag. Wieder muss ich im Wohnzimmer bei Vater sitzen und zuhören. Er trinkt Bier aus Blechdosen. Das ist sein Schönstes, wenn Mutter fort ist, denn sie hasst die Dosen und kauft immer nur Flaschen. Er genießt es, die leeren Dosen auf der Tischdecke, die Großmutter gestickt hat, in einem Halbkreis um sich herum aufzureihen, seine Festung gegen invasive Erinnerungen. Mit den Blechringen der Dosenöffnung zielt er nach dem Papierkorb unter Großvaters Eichen-Schreibtisch.

Heute sind es Kriegsgeschichten. Es ist immer Krieg, wenn ich bei ihm sitzen und zuhören muss. Jede Bierdose eine neue Geschichte. Nach einer Weile steht er auf.

'Wollen wir einen Gang durch die Gemeinde machen?' fragt er.

Die in die Form einer Frage gehüllte unwidersprechbare Aufforderung bedeutet, sich in dicke Wintermäntel zu hüllen, die Stiefel herauszuholen und mit Mützen und Handschuhen bewaffnet in die Kälte eines schneelosen, späten, dämmrigen, fast schon dunklen Winternachmittages zu treten. Ein Gang durch die Gemeinde heißt, beim Haus der Webers rechts die Magdalenenstrasse hinauf und weiter an den Geschäften der Hauptstrasse entlang gehen. Dort zuerst der Blick ins Fenster des Dorfjuweliers. Wohnhäuser, dann die Post und gleich daneben die Apotheke. Sie liegt ein wenig zurückversetzt, so dass wir vom Bürgersteig fort bis vor die Eingangstür treten. Zwischen Schaufenster und Tür hängt das Thermometer und das Barometer. Dieser Messinstrumente bedarf mein Vater stets zur Rückversicherung seiner Befindlichkeit.

'Wusste doch, dass es weit unter Null Grad ist.'

Er klopft auf das Glas des Barometers.

'Kein Wunder, dass mir so kodderig ist – bei dem Luftdruck', sagt mein Vater.

Weiter am Friseur vorbei zur Dorfkneipe. Immer sein Zögern hier. Die Sehnsucht, sich in eine solche Proletarierhöhle zu wagen. Für ihn enthält sie ein Versprechen unkomplizierter Männerfreundschaft. Mit einem leichten Schubs seines Ellbogens, als sei es meine Versuchung, vor der er mich bewahren müsse, gehen wir weiter zum Elektrogeschäft. Wir bleiben vor dem Schaufenster stehen. Immer seine Fragen.

'Brauchst du einen Fön? Woll'n wir nich'n Heizkissen kaufen?'

Aber diese Fragen kommen erst später, wenn ich als Studentin aus Hamburg zu Besuch zu Hause bin. Hier bin ich elf, jung genug, um die Kriegsgeschichten auszusitzen, sie widerspruchslos hinzunehmen und mich willig für den Gang durch die Gemeinde zur Verfügung zu stellen. Neugierig auf den Vater und geadelt durch sein Verlangen nach meiner Nähe. Verwirrt von Erwartungen und Bedeutungen, die mein Vermögen übersteigen.

Hier etwa, nachdem wir das Elektrogeschäft hinter uns lassen, fängt die Geschichte an.

Vater ist Funker. Er wurde nach seinem dritten Semester als Medizinstudent in den Krieg eingezogen. Es ist sein allererstes Jahr im Krieg. Er ist mit seiner Truppe in Griechenland. Verglichen mit den Russlandgeschichten waren das noch goldene Zeiten. Genug zu essen, Alkohol und Zigaretten stets verfügbar. Und warm war es auch. Ich sehe eine Stube unter einem flachen Wellblechdach vor mir. Stählerne Militärschreibtische. Nacht. Er hat Dienst, muss die hereinkommenden Funksprüche lesen und dann an seinen Vorgesetzten weiterreichen, die dringenden, andernfalls nur deren Eingang im Buch vermerken und sie bei der Wachübergabe am nächsten Morgen vorlegen. Ich sehe ihn in die Nacht hinaustreten. Frische Luft schnappen und eine rauchen. Drinnen die Bürokraft. Eine Frau. Ist sie Griechin? Ich stelle mir eine dunkelhaarige Frau Ende zwanzig vor. Leicht verhärmte Gesichtszüge. Manchmal sehe ich sie auch gar nicht oder nur ihren Rücken. Das Funkgerät knattert. Vater kommt die Treppe herauf und sieht die namenlose Frau am Funkgerät, die Nachricht lesend. Er bleibt im Schatten der Tür stehen. Sie nimmt den Streifen aus der Maschine und hält ihn in den Händen. Sie lässt die Nachricht verschwinden.

Will sie sie verbrennen? In den Papierkorb werfen? Wie hat er es bloß erzählt? Ich kann mich nicht erinnern. Die Worte wiegen schwer, sein Erzählen ist so hastig und von einer Dynamik bestimmt, über die er selbst die Kontrolle verliert. Er muss die Geschichte zuende erzählen, doch er will es nicht. Die Geschichte verlangt ihr wohlverdientes Ende. Er ist hier erst misstrauisch, noch nicht alarmiert. Aber ich muss es schon gewesen sein, sonst könnte ich mich doch erinnern, oder?

Er fischt die Funkstreifennachricht aus dem Müll, aus dem Aschenbecher, aus der Schublade, in die sie sie hastig geschoben hatte. Er erkennt, es ist ein strategisch wichtiger Befehl. Er schaut die Frau an und erkennt in ihr die Feindin. Feindin des deutschen Reiches, Kriegsverbrecherin, la femme de resistance, die Partisanin. Er zögert. Übt er Treu und Redlichkeit, könnte er endlich den Respekt seiner Vorgesetzten gewinnen. Übt er Gnade, so könnte er der ewige Held im Leben dieser Frau werden. Beide Zwecke erscheinen ihm verlockend. Er zittert für Sekunden zwischen Versuchungen. Und alarmiert seinen Vorgesetzten. Ich höre Stolz in seiner Stimme, der Stolz des Rechtschaffenen. Und jetzt auch ganz deutlich und schmerzlich wahrnehmbar den Alarm, die Angst des Enthüllers vor der Enthüllung. Er hat Angst vor mir, seiner Tochter, der unfreiwilligen Zeugin, die in Scham verstrickt sich unsichtbar machen möchte, die Uhr zurückdrehen, von vorn anfangen, damit er sich nicht vor mir fürchten muss.

Wir sind längst jenseits des Spatzenteichs in der Gasse zwischen den braven Mittelstandshäusern der Schmidts, der Beckers und der Schneiders, wo Vater und ich im Herbst immer heimlich mit verschworenem Gangsterblick die Astern von den durch die Drahtzäune hervorquellenden Büschen klauen. Hier bricht es aus mir heraus.

'Was ist mit der Frau passiert?'

'Keine Ahnung. Wahrscheinlich Todesstrafe. Die kannten damals kein Pardon.'

Die.

Damals.

Schweigen.

Sein abgewandter Körper. Der leicht vorgebeugte Kopf unter dem Filzhut. Dem Hut, über den Anne Beyer sich immer lustig machte, weil er ihn leicht lüftete, wenn immer er einem respektablen Mitglied der Gemeinde begegnete; die, die ein Jahrzehnt jünger sind als er, die die Schwein hatten, zu jung um ins blutige Kriegsgeschäft verwickelt zu werden. Seine Körperhaltung verbietet mir Erinnerung. Und ich werde vergessen, so geflissentlich wie ich morgen in der Schule zuhöre, wenn Frau Polinski uns wieder mit den grausamen Taten der Nazischergen füttern wird. Meine Furcht, sein Vertrauen zu verlieren, macht mich zu seiner Komplizin in unserem gemeinsamen Unterfangen, die Schlucht zwischen ihm und der Geschichte zu vertiefen. Geschichte ist etwas, was anderen zustößt. Und so gehen wir durch das Schweigen, das aus der Schlucht hinaufsteigt, auf unserem Weg zurück in die Birkenstrasse." (ALSOP, o.J.) [44]

Was sowohl in BOYMs als auch in meiner Erinnerung deutlich wird, ist eine weitere Dialektik, die Auto-Ethnografinnen meistern müssen. Es ist die Dialektik zwischen dem Persönlichen und dem Kulturellen. Diese Dialektik ist Zweck und Herausforderung unserer Arbeit, eine Herausforderung, weil es keine Sprache gibt, die beides abdeckt, das Persönliche und das Kulturelle. Auto-/ethnografinnen, die sich die Aufgabe stellen, Kulturen miteinander in Beziehung zu setzen, sind Grenzgängerinnen: sie überqueren die Grenze zwischen Heimat und Fremde, zwischen Insider und Outsider, zwischen dem Persönlichen und dem Kulturellen. Es gibt nichts Schwierigeres als dieses Hin und Her zwischen Lebens-, Sprech-, Denk- und Fühlweisen. Es gibt nichts Riskanteres, als das Hin und Her zwischen verschiedenen Identitäten und Praktiken der Entfremdung. Wir exponieren uns, wir machen uns verwundbar und wir schweben ständig in der Gefahr, diesseits oder jenseits der Grenze stecken zu bleiben:

Dabei liegt, so glaube ich, gerade in diesen Grenzüberschreitungen, am Ursprung dieser schwierigen Paradoxien, die Chance für ein tieferes Verstehen. [46]

6. Schlussfolgerungen

Persönlich zu werden, wenn wir Kulturen miteinander in Beziehung setzen, ist Notwendigkeit und Risiko zugleich. Doch die Frage bleibt: Wie kann diese spezifische Form der Selbst-Reflexivität – der auto-ethnografische Ansatz – praktiziert werden? [47]

Um diese Frage zu beantworten, will ich zunächst definieren, was es bedeutet, Ethnografie zu praktizieren. EMERSON, FRETZ und SHAW (1995, S.2ff) zufolge lernt die Ethnografin im Feld die Menschen kennen und nimmt an ihren täglichen Routinehandlungen teil, während sie sich zugleich regelmäßig zurückzieht, um über das Erlebte zu reflektieren, indem sie schriftliche Berichte vom Leben der "Anderen" anfertigt. Dieses Eintauchen führt zur Re-Sozialisation. Die Ethnografin versucht, das persönliche Leben der Beobachteten mit deren sozialem Kontext und deren Kultur in Zusammenhang zu bringen, ohne jemals selbst Insider zu werden. In gewisser Weise lernt die Ethnografin eine neue Sprache, ohne sie jemals akzentfrei sprechen zu können. Egal wie fließend sie spricht, sie wird niemals ganz angepasst sein (s. ROTH & HAMARA 2000). Die Anderen werden stets ihren Akzent heraushören, sowohl im buchstäblichen als auch im metaphorischen Sinn des Wortes. Sie bleibt Außenseiterin, weil die Verbindung zwischen dem Persönlichen und dem Kulturellen konstruiert und re-konstruiert ist. Die täglichen Interaktionen geschehen vor dem Hintergrund eines anderen Horizonts, der jeweils nur teilweise mit dem neuen Horizont überlappen kann. [48]

Das Gleiche lässt sich über die Auto-Ethnografin sagen, sei es die Anthropologin, die die Heimat untersucht (s. KENNY 2000), die Sozialwissenschaftlerin jeglicher Provenienz (siehe z.B. den Historiker EKSTEINS 1999) oder die Autobiografin (z.B. CHERNIN, 1983). Wenn wir uns selbst und unsere eigene Kultur mit einer neu definierten Version ihrer selbst präsentieren, so verändern wir damit unsere Sprache, verändern unseren inneren Kompass und machen uns zu Außenseiterinnen für diejenigen, die wir erneut aufsuchen. Wir gehen re-sozialisiert aus diesem Prozess hervor. [49]

Die Selbst-Reflexivität der Auto-Ethnografin kommt auf verschiedenen Ebenen ins Spiel:

EMERSON et al. (1995, S.27) empfehlen, dass wir im Prozess der ethnografischen Feldarbeit gerade dann Notizen machen, wenn Ereignisse unseren Erwartungen entgegen laufen, wenn bestimmte Erlebnisse uns erregen, schockieren, verärgern, oder Gefühle von Isolation und Entfremdung hervorrufen. Gerade bei solchen Ereignissen versagt unser innerer Kompass und wir neigen dazu, uns beim Deuten und Erklären auf die primären Strukturen unserer frühen Entwicklungen zu verlassen. Folglich sind es genau diese Momente, die auto-ethnografischer Anstrengung bedürfen. [51]

In meiner ersten Zeit hier in den USA war ich nicht nur geschockt, dass die Todesstrafe noch immer eine legal praktizierte Form der juristischen Bestrafung darstellt, sondern auch davon, dass diese Bestrafungsform in allen Schichten der Bevölkerung Zustimmung findet. Ich fühlte mich durch diese kulturelle Praxis in einem Ausmaß bedroht, das mich überraschte. Erst mein Blick zurück nach Hause, erst als ich meinen persönlichen Hintergrund mit dem kulturellen Rahmen, in dem ich aufgewachsen war, verknüpfte, verstand ich die Ursache meiner Gefühle (s. oben, ALSOP, o.J.). [52]

Alles ethnografische Schreiben transformiert die komplexen, mehrdimensionalen, realen Lebensereignisse in die lineare Form der schriftlichen Aufzeichnung. Vieles, was im Verlauf dieser Transformation passiert, bietet sich für die auto-ethnografische Reflexion an. Ich werde mich hier auf die innere Zensur und die phantasierte Leserschaft konzentrieren. Diese innere Zensur kann sich auf das reale oder imaginierte Ideal eines perfekten Wissenschaftlers beziehen, der, der alles weiß und alles kann. Die Kategorien von Gut und Böse, vom Objektiven und Subjektiven, vom Faktum und der Fiktion – all diese Kategorien, die wir im Verlauf unserer akademischen Ausbildung erworben haben – erscheinen uns in den verschiedensten Verkörperungen. Und wir sind in einen inneren Dialog mit ihnen verwickelt, während wir Sätze streichen und uns bestimmte Gedanken verbieten, während andere gefeiert und unterstrichen werden (s. ALSOP 2001). Und schließlich gibt es das unsichtbare Publikum, eine Person oder eine Gruppe von Menschen, die für uns bedeutsam sind und an die wir uns bewusst oder unbewusst in unserer Arbeit richten. Wir schreiben für sie, wir unterhalten uns mit ihnen, während wir schreiben. RICHARDSON bezieht sich auf diese Form der Reflexivität mit dem Begriff "Schreib-Geschichten" oder "Mikroprozess-Schreib-Geschichten" (2001, S.931f.). [53]

SHWEDER (1997, S.162) überdachte seine Arbeit als Mitglied einer Forschungsstiftungs-Kommission und folgert, dass die Entscheidung darüber, ob ein Forschungsprojekt finanzielle Unterstützung verdient oder nicht, dessen Potenzial für Entdeckungen und dessen kreative Unsicherheit sein sollte. Das Schlummernde, die unbekannten emotionalen und kognitiven Strukturen sind es, die in der ethnografischen Feldarbeit aktiviert werden, aufgrund unseres Mangels an Antizipation, aufgrund des Versagens unseres inneren Kompasses. Der Auto-Ethnografin geht es gerade darum, diese Strukturen zu entschleiern. Die Postmoderne hat uns gelehrt, dass Forschen ein kontinuierliches Wieder-Erschaffen von Selbst und Sozialwissenschaft bedeutet. "Knowing the self and knowing about the subject are intertwined, partial, historical, local knowledges" (RICHARDSON 2000, S.929). [54]

In diesem Artikel habe ich versucht, eine Art, selbst-reflexiv zu sein, aufzuzeigen: den Blick zurück in die Heimat. Die türkische Psychologin Aydan GULERCE (nach STAEUBLE 2001, S.4) formuliert es so: "[Once] the West has gained sufficient self-reflexivity to prevent further patronizing and the rest of the world has gained sufficient self-assertion for emancipation, we can hope for a genuine intercultural interchange." [55]

Danksagung

Ich danke Susanne M. FEST, Cassandra S. GOLDWATER, Wolff-Michael ROTH und Katja MRUCK herzlich für ihre konstruktive Kritik.

Anmerkungen

1) Hier und im Folgenden verwende ich überwiegend die grammatikalisch weibliche Form des Substantivs – ich kann mich einfach nicht an die EthnografIn gewöhnen. Manchmal gehe ich bewusst auf die maskuline Form zurück, manchmal wähle ich sie eher "aus Versehen". Es bleibt den Lesenden überlassen, diese Inkonsistenzen zu interpretieren oder sie als Idiosynkrasien meines Stils hinzunehmen. <zurück>

2) Amerikanische Hotelketten mildern im Ausland die Qualen, die dieser Mangel an Antizipation in der Touristin oder der Geschäftsfrau hervorruft; sie nehmen das Gefühl, Außenseiterin zu sein, indem sie eine Umgebung schaffen, die mit der zu Hause identisch ist (s. HELLER 1995, S.2). <zurück>

3) Hier und im Folgenden beziehe ich mich nicht auf die temporären Herausforderungen, die sich einer Touristin stellen, sondern auf das langfristige Einlassen auf die Lebensweisen anderer. Der Tourismus ist den Deutschen lieb und teuer – sie weisen die höchste Rate von Tourismus pro Bevölkerungsanzahl in der westlichen Welt auf. Der materielle Reichtum der modernen industrialisierten Länder brachte diesen Reiz des Verreisens mit sich (RIEFF 1994, S.30). <zurück>

4) Es gibt viele Gründe, die Heimat zu verlassen. SAID (2000, S.181) unterscheidet zwischen Exilantinnen und Flüchtlingen auf der einen Seite versus im Ausland Lebenden und Emigrantinnen auf der anderen Seite – die letzte Kategorie hat einen Hauch von freiwilliger Wahl. Ich schließe dagegen die Touristin aus, die für eine Woche oder einen Monat auf einen Abenteuer-Trip geht. Das hat nichts mit dem zu tun, was ich unter dem Einlassen auf eine andere Kultur verstehe. <zurück>

5) Die Änderungen, die FREUD später an seiner Theorie vornahm, sind für meine Ausarbeitung nicht relevant. <zurück>

6) Es ist gewagt, eine solche Hypothese aufzustellen, denn ich hätte vielleicht irgendwann auch zu Hause auf andere Weise Zugang zu diesen Gefühlen bekommen. Schließlich bedarf es oft zweier Generationen, um sich dem Trauma, das ein Land erlitten hat, zu stellen (s. diverse Publikationen von Memoiren der Mitglieder der zweiten Generation, z.B. SCHAEFER & KLOCKMANN 1999; SCHLINK 1998; SCHMIDT 1999; SEIFFERT 2001). Dagegen stehen die vielen Geschichten, die Ethnografinnen und Autorinnen erzählen: dass sie nämlich erst in der Fremde und mit der Distanz von Grenzen, Ländern und Ozeanen zwischen sich und ihrer Heimat plötzlich erkennen, wofür sie zuvor blind waren (siehe z.B. WEISS 2001, ARTS IN AMERICA 1998). <zurück>

7) Einen guten Überblick über die Geschichte der Auto-Ethnografie liefert REED-DANAHAY (1997). Ein weiteres exzellentes Beispiel für einen autoethnografischen Ansatz stellt KENNY (2000) dar. In meinem Artikel über Power, Anxiety and the Research Process (ALSOP 2001) eröffne ich den Blick für eine weitere Möglichkeit, Selbst-Reflexivität zu praktizieren. Ich beschreibe darin die verschiedenen Phasen meiner Erfahrungen mit dem Forschungsprozess und komme zu dem Schluss, dass es eminent wichtig ist, den eigenen Forschungsprozess einer Auto-Ethnografie zu unterziehen. Selbst-Reflexivität kann praktiziert werden, indem die Akademikerin ihre eigenen Machtbestrebungen mit der Bewältigung ihrer Ängste in Beziehung setzt, den Standards des akademischen Systems nicht gerecht zu werden. Ein so verstandener Forschungsprozess eröffnet die Chance, die Grenzen zwischen der Subjektivität der Forscherin, dem akademischen Feld und dem größeren Rahmen der Gesellschaft, in dem die eigene Forschung stattfindet, erneut zu verhandeln. <zurück>

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Zur Autorin

Christiane K. ALSOP arbeitet als Lehrbeauftragte im Graduierten-Programm für interkulturelle Beziehungen an der Lesley University in Cambridge, USA. Ihre akademischen Interessen sind interdisziplinär, sie reichen von theoretischen und methodologischen Studien in den Sozialwissenschaften zur intergenerationalen und interkulturellen Kommunikation. Sie hat im Bereich der Bedeutung von Objekten, Orten und Zeremonien und über Liebe und Beziehung geforscht. Zur Zeit arbeitet sie an einer Auto-Ethnografie über die Beziehung zwischen der Generation des Zweiten Weltkriegs und ihren Erben.

Kontakt:

Dr. phil. Christiane K. Alsop, Dipl. Psych.

Lesley University
GSAS – Program for Intercultural Relations
29 Everett Street
Cambridge, MA 02138
U.S.A.

E-Mail: christiane@alsop.com

Zitation

Alsop, Christiane K. (2002). Heimat und Fremde: Selbst-reflexive Auto-/Ethnografie [55 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(3), Art. 10, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0203105.

Revised 2/2007

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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